Doppelmoral Jesaja 42
„Passionszeit“ – Leidenszeit. Es läuft auf Jesu Kreuzigung zu. Ab Aschermittwoch steht sieben Wochen lang Jesu Leiden und Sterben im Mittelpunkt des christlichen Kalenders.
Die „Passionsgeschichte“ – Jesu letzte Erdenwoche, damals in Jerusalem. Aber „eigentlich“ fängt die Passionsgeschichte viel eher an: Jesus ist erst ein paar Tage alt, als Maria und Josef im Tempel auf den alten Simeon treffen. Simeon erkennt in dem Säugling den Retter. Er lobt Gott. Aber er sagt zu Maria: „Auch durch Deine Seele wird ein Schwert dringen!“ (Lukas 2, 35). Das ist wohl schon eine Anspielung auf das Kreuz. Erlösung geht durch Leid hindurch, und auch Maria als Mutter wird das erleben müssen.
Das Markus-Evangelium ist das älteste und kürzeste der vier Evangelien. Man hat es als „Passionsgeschichte mit ausführlicher Einleitung“ bezeichnet: Es ist nicht einfach eine Biographie – allein schon deswegen nicht, weil Markus nicht bei Jesu Geburt anfängt, sondern nur die kurze Zeit des erwachsenen Jesus in der Öffentlichkeit erzählt. Sondern: Es ist sein Leidens-Weg mit Vorgeschichte.
Kaum dass Jesus öffentlich auftritt, eckt er schon bei den besonders Frommen an: Er lässt einen Aussätzigen dicht an sich heran, obwohl das verboten ist. Er spricht einem Menschen Vergebung zu, obwohl doch nur Gott vergeben kann. Er isst und trinkt mit Leuten, die als Sünder verrufen sind. Er verteidigt es, dass seine Jünger das übliche Fasten nicht einhalten. Und als diese Jünger beim Ährenrupfen erwischt werden, obwohl doch Sabbat ist, also Ruhetag, da verteidigt er sie.
Die Frommen als die Wächter über die Einhaltung der göttlichen Gesetze, sind alarmiert. Die Ordnung ist gestört! Aber noch andere sind alarmiert: Hier in Galiläa ist Herodes Antipas der Regional-König. Dem ist Religion ziemlich schnuppe. Aber er ist König von Roms Gnaden, und wenn nicht Ruhe im Staat ist, kann er Schwierigkeiten mit den Römern bekommen. Deswegen haben die Leute des Herodes ein misstrauisches Auge auf alle, die die Ruhe und die Ordnung stören.
Und nun die erste Geschichte im Markus-Evangelium, wo ausdrücklich von Jesu Tod die Rede ist. Sie fängt so an:
Jesus ging wieder in die Synagoge. Und es war dort ein Mensch, der eine verdorrte Hand hatte. Und sie lauerten auf ihn, ob er ihn am Sabbat heilen würde, damit sie ihn anklagen könnten. (Markus 3, 1-2)
Jesus, Sabbat, verdorrte Hand, Lauern, Heilen, Anklage. Diese paar Worte als Ausgangspunkt für ein Theaterstück, und das Thema des Dramas ist klar. Jesu Gegner wollen etwas gegen diesen Störenfried unternehmen. Es gibt gute Gründe, am Sabbat in ein Gotteshaus zu gehen. Dass ausgerechnet diese besonders Frommen heute da sind, um etwas gegen Jesus protokollieren zu können, ist allerdings nicht besonders fromm.
Und der Mensch mit der verdorrten Hand? Ist der jeden Sabbat in der Synagoge oder nur wegen Jesus? Dürfen wird er wohl, „verdorrte Hand“ ist ja nicht „aussätzig“. Wäre er extra gekommen, damit Jesus ihn heilt, er wäre wohl direkt zu ihm hingegangen. Aber Jesus muss ihn erst holen:
Jesus spricht zu dem Menschen, der die verdorrte Hand hatte: „Steh auf und tritt in die Mitte!“ Und er spricht zu ihnen: „Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, das Leben zu retten oder zu töten?“ Sie aber schwiegen. Und er blickte auf sie umher mit Zorn, betrübt über die Verhärtung ihres Herzens …
Jesus hat es plötzlich mit zwei verschiedenen Behinderungen zu:
- „verdorrte Hand“
- „verhärtete Herzen“
Aber „verhärtetes Herz“ scheint die schlimmere Krankheit zu sein, und diese Herzens-Krankheit löst bei Jesus die heftigeren Gefühle aus: Zuerst Zorn – denn „verhärtetes Herz“ hat was von „kaltherzig“, „erbarmungslos“, „nach Aktenlage“. Aber darunter ein tieferes Gefühl: „betrübt“. Wörtlich steht im Griechischen: „mit-betrübt“. Das ist wie „Mit-Gefühl“ oder „Mit-Leiden“. Man kann das nur schlecht so bezeichnen, denn unsere Hart-Herzigen selbst würden ja gar nicht sagen, dass sie leiden. Sie empfinden ja eher – nichts. Jesu Mit-Gefühl mit diesen armen Menschen ist eher ein stellvertretendes Leiden.
„Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, das Leben zu retten oder zu töten?“
„Leben retten“, dass würden auch die frömmsten Pharisäer zulassen. Da hätte jetzt gut einer sagen können: „Moment mal, Jesus, der stirbt aber gerade gar nicht! Mit seiner Hand, da soll er mal lieber morgen wiederkommen!“
Jedoch: „Sie aber schwiegen.“ Wieso schweigen sie? Ich habe zwei Antworten:
- Vermeidung von Peinlichkeit. In einem Seminar lässt sich locker darüber diskutieren, wann eine Therapie erlaubt ist und wann nicht. Aber direkt unter den Augen des Menschen mit diesem Handicap? Und vor seiner Angehörigen? Da lässt sich nicht mehr so gut schwadronieren.
- In Wirklichkeit wollen diese Frommen die Heilung. Und sie wollen die Heilung nicht durch Diskussionen verhindern. Wieso das? Na, weil sie doch Anklagepunkte gegen Jesus sammeln! Doppelmoral pur: Sie wünschen sich zu sehen, was sie keinesfalls zu sehen wünschen.
Jesus spricht zu dem Menschen: „Strecke die Hand aus!“ Und er streckte sie aus, und seine Hand wurde wiederhergestellt.
Ist das nun wirklich eine Heilung am Sabbat? Jesus veranstaltet ja überhaupt kein großes Hokuspokus. Sondern Jesus fordert den mit der verdorrte Hand ganz schlicht zu etwas auf, was der seit sooo langer Zeit gar nicht mehr ernsthaft versucht hatte: „Strecke deine Hand aus!“ Und voilà: Er tut es! Von der Verhärtung und Verkrümmung ist nichts mehr zu sehen. – Vielleicht sollten Sie das heute auch noch versuchen: Jemandem die Hand hinstrecken. Verhärtungen und Verkrümmungen könnten sich lösen …
Aber für die Hartherzigen ist die Sache klar: Jesus hat geheilt. Und das durfte er nicht! Das Maß ist jetzt voll: Und die Pharisäer gingen hinaus und hielten mit den Herodianern sofort Rat gegen ihn, wie sie ihn umbringen könnten. (Markus 3, 1-6)
„Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, das Leben zu retten oder zu töten?“ Diese Frage von Jesus wirkte eben in der Synagoge ein bisschen dick aufgetragen. Aber nun gewinnt sie ihr schauriges Gewicht. „Leben retten oder töten?“ Die Antwort der Gegner: „Töten!“ Da haben diese sonst so prinzipientreuen Leute auf einmal keine Skrupel. Der mit der verdorrten Hand, der hätte bis morgen warten können – aber die Beratung über den Mord, die muss noch heute sein. Jesus für seinen Umgang mit den Zöllnern im Dienste Roms kritisieren – und nun ausgerechnet mit diesen gottlosen, rom-freundlichen Herodes-Leuten gemeinsame Sache machen. Auch für Moral-Apostel ist die Moral sehr dehnbar. Vielleicht: GERADE für Moral-Apostel …
Was geht es uns an? Ich finde: Man ist schnell dabei, die Pharisäer als Feindbild aufzubauen, sich über sie zu empören und sich darin zu gefallen, selbst anders, toleranter, besser zu sein. – Und schwupps, ist man auch einer …
Nehmen Sie diese Geschichte lieber als Aufforderung zur Selbstkritik: Ob vielleicht unerkannte Motive in MIR am Werke sind, die nicht so astrein sein? Die mich dazu verleiten, die direkte Auseinandersetzung durch Schweigen zu umgehen – und stattdessen hintenrum „Böses zu tun“ und Leben zu zerstören, statt zu retten?
Und: Die Geschichte ist eine Ermutigung: Jesus als Vorbild! Jesus hätte die Situation entschärfen können, er hätte den Konflikt vermeiden können, er hätte sich nicht selbst belasten müssen. Hat er aber nicht. Keine Doppelmoral. Klartext. Weil da einer ist mit einer verdorrten Hand. Und der braucht eine heilende Aufforderung. Jetzt. Und nicht erst morgen.
Christus, ich will Dir nachfolgen. Aber es gibt Situationen, da fehlt es mir an Mut, damit ernst zu machen. Bleib mir als Vorbild vor Augen! Und mit Deinem Geist in meinem Herzen!
Amen.