Auf der Matte (Psalm)
Bitten Sie manchmal um Hilfe? Können Sie das – um Hilfe bitten? Wahrscheinlich schon. Sie haben ja schließlich einen Mund. Und ein Telefon.
Wenn Sie trotzdem sagen: „Ich kann schlecht um Hilfe bitten!“, dann ist das eigentlich das falsche Wort: Sie KÖNNEN schon, aber Sie WOLLEN nicht. Was dahinter steckt: Vielleicht wollen Sie niemandem „zur Last fallen“. Oder Sie „müssen“ alles allein schaffen. Oder Sie wollen nicht „in der Schuld“ von jemandem stehen und es „wieder gutmachen müssen“. Oder Sie finden, dass Sie es nicht wert sind, dass sich jemand um Sie kümmert. Na ja. „Eigentlich“ finde ich ja, dass das alles Quatsch ist. Auf der anderen Seite bin ich in einer fremden Gegend auch nicht der Erste, der nach dem Weg fragt.
Ein richtiges Positiv-Beispiel für „um Hilfe bitten“ ist ein blinder Bettler namens Bartimäus. Als der am Wegesrand mitbekommt, dass Jesus in der Nähe ist, fängt er an, lautstark nach ihm zu schreien. Und als die Leute ihn zur Ruhe bringen wollen, da schreit er nur noch mehr – bis Jesus ihn zu sich holen lässt. Als Jesus ihn dann fragt, was er denn will, da sagt er es ganz klar: Er will sehen! Und das passiert dann auch: Er sieht! Und er folgt Jesus auf seinem weiteren Weg.
Es gibt aber auch noch ein Kontrast-Beispiel: Jesus kommt nach Jerusalem und geht zum Teich Bethesda – eine Art Kurbad mit Säulengängen drumherum. Dort liegen Scharen von Kranken, Blinden, Lahmen, Ausgemergelten. Wieso? Manchmal bewegt sich das Wasser. Und wer dann zuerst im Teich ist, wird geheilt. So sagt man es jedenfalls.
Einer liegt dort, der ist schon 38 Jahre lang gelähmt. Und lange, lange liegt er nun schon jeden Tag an diesem Teich. Anders als in der Bartimäus-Geschichte scheint der Gelähmte aber nichts von Jesus mitzubekommen. Es läuft andersrum:
Als Jesus diesen daliegen sah und wusste, dass es schon lange Zeit so mit ihm steht, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden?
Also kein Bartimäus, der nach Jesus schreit, kaum dass der auftaucht. Nein, Jesus „entdeckt“ den Gelähmten, spricht ihn an. Die Frage ist ein bisschen wie bei Bartimäus. Hier: „Willst Du gesund werden?“ Na, was meinen Sie? Was antwortet dieser Gelähmte nach 38 Jahren?
Genau diese Frage habe ich vor einiger Zeit bei einer Gesprächsrunde in meiner forensischen Klinik gestellt. Zwei Teilnehmer waren da, beide schon mehrere Jahre hinter Gittern sind. Beide, sehr spontan: „Nein!“ In dem Moment wurde mir klar: Nach mehreren Jahren Forensik „kennt“ man den so lange Gelähmten ziemlich gut. So direkt sagt der zwar nicht „Nein!“ zu Jesus, aber es geht in dieselbe Richtung:
Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, dass er mich, wenn das Wasser bewegt worden ist, in den Teich werfe. Während ich aber komme, steigt ein anderer vor mir hinab.
Ja, die soziale Kälte. Keiner kümmert sich um den armen Kerl. Aber ich glaube ihm die Nummer nicht so ganz. Hätte er wirklich niemanden, er hätte vor Hunger, Durst und Dreck nicht mal ein Jahr geschafft, jedenfalls keinesfalls 38 Jahre. Und: Er kann zum Wasser kommen, nur eben langsam. Wieso ist er in 38 Jahren nicht auf die Idee gekommen, sich direkt ans Wasser zu legen? Und sich hineinplumsen zu lassen, kaum dass es sich bewegt?
Die anderen sind schuld. Und so umschifft er die Frage: „Willst Du gesund werden?“ Er hat es sich im Laufe der Jahre ganz gut arrangiert auf seiner Matte; mit den Almosen; mit seiner festen Überzeugung, gelähmt zu sein; mit seiner Gewissheit: die herzlosen anderen sind schuld!
Sie merken: Der Typ ist mir nicht sympathisch. Ich kenne das, wie anstrengend, wie nervend es sein kann, wenn einem jede Ermutigung und jede konstruktive Idee aus der Hand geschlagen wird. Der Gelähmte am Teich Bethesda auf seiner Matte sitzt – nein: liegt – am längeren Hebel. Es gibt da so Joker, die sind unschlagbar: „Ich kann aber nicht!“; „Ach, es hat sowieso alles keinen Sinn!“; „Sie kennen meinen Mann / meine Frau / meine Eltern / meine Kinder nicht!“
Was denke ich mir dann? „Wer nicht will, der hat schon! Dem geht’s wohl noch zu gut! Das muss er selbst wissen, ist ja schließlich mehr als 3×7 Jahre!“ Vielleicht melde ich ihm noch das Spielchen zurück, das er da gerade mit sich und mir veranstaltet. Jesus reagiert anders:
Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett auf und geh umher!
Der Volksmund nennt so etwas: „Jemandem Beine machen“. Jesus fordert den Gelähmten gerade heraus zu etwas auf, wovon der doch seit Jahrzehnten „weiß“: „Das geht nicht!“ Da hat der Gelähmte doch jetzt sicher ein „Aber“ als Entgegnung, oder? Nein, hat er nicht! O Wunder:
Sofort wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett auf und ging umher. (alles: Johannes 5, 1 ff.)
Da hört einer auf, darauf zu warten, dass andere ihn an sein Ziel tragen. Da fängt einer an, sich etwas zuzutrauen und sich auf seine Beine zu stellen. Da wickelt einer die Matte, sein „Bett“, zusammen, auf der er es sich so lange bequem gemacht hatte. Da fängt einer von jetzt auf gleich ein neues Leben auf zwei Beinen an, obwohl das doch mit vielen Fragezeichen und Unsicherheiten behaftet sein muss. Und all das, weil Jesus ihm das sagt. DAS ist das Wunder.
Als der blinde Bartimäus wieder sieht, da folgt er Jesus auf seinem Weg. Als unser Gelähmter plötzlich wieder läuft, folgt er Jesus nicht. Gibt es Hinweise auf Euphorie? Worte des Dankes? Fehlanzeige, nichts davon ist überliefert. Stattdessen zeigt der Fortgang der Geschichte: Der Geheilte weiß noch nicht mal genau, wer das denn war, der ihn da geheilt hat. Aber immerhin: Er liegt nicht mehr am Boden!
Wieso hat Jesus ausgerechnet DIESEN Menschen unter all den Patienten am Teich Bethesda „gesehen“? Wieso angesprochen? Wieso gerade ihm Beine gemacht?
Dazu steht kein Wort im Text. Meine Vermutung: Jesus sieht vielleicht GERADE Menschen, die nicht nur an den Beinen, sondern auch in der Seele gelähmt sind, die für sich keine Hoffnung haben, die es sich mit ihrem Elend arrangiert haben und gern anderen dafür die Schuld in die Schuhe schieben. Jesus ist mit seiner „Zu-Mutung“ auch noch für diejenigen da, die mich mit ihrer Hoffnungslosigkeit gehörig angesteckt hätten. Und so kommt es dann, dass einer, der sich selbst nichts zutraut, aber den Mitmenschen alles Schlechte, dass der auf die Beine kommt. Einfach weil er es sich von Jesus sagen lässt.
Seine Matte soll der bis dahin Gelähmte nehmen und gehen. – Wieso? Er braucht sie doch nun nicht mehr, die kann doch ein anderer Sieche erben? Oder?
Falsch! Er wird sie immer wieder brauchen! Auch als geheilter, als gesunder Mensch wird er immer wieder zu Boden gehen und alle Viere von sich strecken. Die Meisten tun das jede Nacht. Und er wird vielleicht nochmal für längere Zeit wieder auf der Matte landen – auch geheilte Gelähmte können eine Grippe kriegen. Solche Zeiten sind vonnöten, man kann sie nicht straflos abkürzen. Aber: 38 Jahre müssen es vielleicht ja nicht wieder werden …
Was ich aus dieser Geschichte lernen möchte?
- Mich nicht so leicht von der lähmenden Hoffnungslosigkeit anderer anstecken zu lassen.
- Immer mal wieder der Blick auf „meine“ Matte: Wo bleibe ich, wenn ich wie gelähmt bin? Wenn mich die nächsten Schritte überfordern? Wo darf ich dann sein? Wo ausruhen? Was hält mich und meine Last?
- Die Frage auf der Matte: Ist DIESE Matte die richtige? Erlaube ich mir, noch zu bleiben, wenn es nötig ist?
- Wem schiebe ICH vielleicht mein Unglück als Ausrede für’s Liegenbleiben in die Schuhe?
- Ist es – schon – Zeit, mich wieder auf die eigenen Beine zu stellen und einen ersten Schritt zu tun?
- Die Frage von Jesus möchte ich mitnehmen: „Willst Du gesund werden?“ Und seine klare Ansage: „Steh auf!“
Gebet:
Christus, den anderen kann ich vieles vormachen. Mir auch. Aber Dir nicht. Danke, dass Du mir nicht alles durchgehen lässt, mich hinterfragst, mir Beine machst! Amen.