Am Rad drehen Psalm 127
Wenn ich donnerstags die psychiatrische Abteilung in Rheine besuche, dann lade ich auch zum „meditativen Morgenspaziergang“ ein: Gemeinsam eine knappe halbe Stunde einen Weg gehen – ein bisschen Straße, ein bisschen Feld, ein Stück an der Ems entlang, ein wenig Wald. Relativ viel Natur also. Wenn wir an der Ems ankommen, gibt es einen kurzen Stopp für ein Bibel-Wort. Aber sonst herrscht Schweigen. Das ist nämlich die Vorgabe: Wir reden die ganze Zeit nicht. Erst wieder zum Schluss, wenn jede und jeder kurz sagt, was er oder sie vom Spaziergang mit in den Tag nimmt.
Klingt ruhig und entspannt, ist es meistens auch. Trotzdem drängelte sich mir vor einigen Donnerstagen das Thema „Eile“ ins Bewusstsein …
Es fing damit an, dass jemand beim Start doch schnell noch auf Toilette wollte, und ob wir warten könnten. Ich habe „Ja“ gesagt. Aber eigentlich war auch ein kleines „Nein“ dabei. Da hätte die Betreffende doch vorher hingehen können, oder? Und außerdem: Die Andacht nach dem Spaziergang, die kann ich ja nicht einfach so verschieben. Aber ok, da war ja zeitlich noch ein bisschen Luft. Trotzdem: „Gefühlt“ war jetzt Eile in mir.
Dann, kurz nach dem Losgehen, stand ein Auto an der Straße mit einem Aufkleber auf der Heckscheibe: „Überholen Sie ruhig! Wir schneiden Sie raus. Ihre Feuerwehr“. Ja, das stimmt, Eile zahlt sich manchmal nicht aus. Aber betrifft MICH dass? Meistens fahre ich ja im Zug mit, da überholt man selten. Und man hat stattdessen öfters Gelegenheit, das Warten zu lernen. Obwohl: Manche lernen’s scheint’s nie, das Warten.
Aber nicht nur beim Autofahren kann Eile einem viel vom Leben nehmen. Bin ich betroffen? Na ja, ich habe schon rückgemeldet bekommen, in meiner Nähe sei es manchmal hektisch. Oder die Kollegin, die mich früher mal einen Tag begleitete und dann von „Klutes Stechschritt“ sprach.
Beim meditativen Morgenspaziergang habe ich mir dann gedacht: Da nehme ich doch, wenn wir gleich an der Ems sind, als Bibelwort:
So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen. (Römer 9, 16)
Aber bevor wir an der Ems sind, erlebe ich noch was: Wir kommen als Gruppe an einem Mann vorbei, der einen kleinen Dackel an der Leine hat. Der Dackel schnüffelt und hat es gar nicht eilig. Da sagt der Mann zum Hund: „Guck mal, wie zügig die gehen! Und Du???“
Normalerweise habe ich als ehemaliges Hunde-Herrchen Verständnis für diesen Mann. Aber dieses Mal halte ich zum Hund und stelle mir vor, wie der antwortet: „Ja, aber die eilen alle in ihre Klinik! Und ich gehe gemütlich zu meinem Körbchen!“
Was ja nicht heißt, dass alle Eiligen in die Klinik kommen müssten. Aber gut ist Eile für die Seele sicher nicht. Zumindest dann nicht, wenn sich diese Eile zum Dauerzustand gemausert hat. Und dann gibt es die vielen Leute, die immerzu durch ihr Leben eilen, deswegen nie behandelt werden, und sich dann in ihrem letzten Stündlein entgeistert fragen: „Hupps, wo war es denn nun, mein Leben?“
Wir sind an der Ems angekommen, und ich spreche nun dieses Paulus-Wort in die Runde:
So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.
Dann wiederhole ich es – mit meinen eigenen Worten: „Es kommt nicht darauf an, dass ich dauernd will und renne und mache und tue. Sondern dass Gott sein Erbarmen schenkt!“
Wir gehen weiter. Ich lasse den Satz bei mir nachklingen. Also wenn ich das glauben kann: „Es kommt darauf an, dass Gott sein Erbarmen schenkt!“, dann müsste mir doch mein Wollen und Rennen, Machen und Tun unwichtiger werden! Es könnte manches gelassener werden, ICH könnte gelassener werden! Ja, könnte sein!
Und umgekehrt: Wenn ich mal Ruhe gebe, wenn das Hamsterrad Pause hat, dann sollte doch die Chance wachsen, dass mir Gottes Erbarmen wichtiger wird! Mhm. Aber erzählen Sie mal einem Hamster, dass der in seinem Rad niemals oben ankommt! Der „muss“ ja immer weiter und immer schneller rennen – aus der Erfahrung heraus: Es reicht immer noch nicht! Ich muss noch mehr Gas geben! Wenn ich endlich oben wäre, wenn ich endlich mal alles unter die Füße bekäme, dann wäre alles gut!
Hamster im Rad setzen auf ihr Wollen und ihr Laufen, nicht auf Gottes Erbarmen. Ob die sich mal gefragt haben, die Hamster, wo das hinführt? Wofür das gut ist? Aber vielleicht finden die Hamster darin ja ihre Erfüllung, dauernd am Rad zu drehen? Menschen wohl eher nicht. Kriegen Hamster eigentlich auch Burnout?
MEIN Hamsterrad: die To-Do Liste im Kopf, manchmal auch auf Papier. Alles nötig, alles wichtig. Für mich. Für andere. Manches bleibt liegen, wenn ich es nicht mache. Und das darf es nicht, liegen bleiben. Ich auch nicht – liegen bleiben. Wobei: Eines Tages bleibe ich liegen. Und die Welt wird sich trotzdem weiter drehen. Vermutlich.
Es gibt mehr als nur Pflichten. Vieles mache ich, weil ich auch wirklich Spaß daran habe! – Aber muss ich denn wirklich jeden Spaß mitnehmen? Darf ich keinen Spaß auslassen? Ich muss das schon zugeben: Meine To-Do Liste, die ist nicht einfach als schweres Schicksal vom Himmel gefallen, die habe ich mir zum großen Teil selbst geschaffen. Manchmal aufhalsen lassen, aber auch da gehören ja mindestens zwei dazu.
Und: Heutzutage gilt „Hamsterrad“ ja als schick. Na, wenigstens bin ich immun gegen den Fitness-Wahn. An DEM Rad sollen doch bitteschön andere drehen!
Beim Spaziergang sind wir inzwischen durch das Wäldchen durch. Und irgendwie scheine ich die Eile ganz gut hinter mir gelassen zu haben, ich gehe als Letzter von allen.
Ich gucke auf die Uhr. O Schreck! – Nein, nicht die Uhrzeit erschreckt mich, es ist noch Zeit genug. Aber: Es ist meditativer Morgenspaziergang, der Inbegriff von Ruhe, Gelassenheit, Entspannung, Offen-Sein. Und was tue ich? Ich gucke auf die Uhr! Ich mache das sonst nie bei diesen Spaziergängen. Aber ausgerechnet jetzt, wo ich mir über die Eile Gedanken mache. Nichts gelernt. Mhm.
Seit dem Spaziergang ist nun wieder eine Weile vergangen. Mancher neue Tag. Jeden Tag: Die Chance, heute nicht am Rad zu drehen, es ruhen zu lassen. Oder langsam und bedächtig. Oder mal in die andere Richtung. – „Umkehr“ soll ja den Christen was bedeuten. Auch heute wieder: Die Chance, dem Erbarmen Gottes Raum zu geben. Und ihm zu vertrauen.
Gebet (aus dem Lied von Peter Strauch):
Meine Zeit steht in Deinen Händen. Nun kann ich ruhig sein, ruhig sein in Dir.
Du gibst Geborgenheit, Du kannst alles wenden. Gib mir ein festes Herz, mach es fest in Dir!