Andacht Monat Oktober 2017

Krise das verlorene Schaf, LK 15

Lieben Sie Ihre persönliche Krise? Wahrscheinlich nein. Ich vermute: Gerne würden Sie Krisen vermeiden. Und wenn sie da ist, die Krise, dann wollen Sie sie schnell hinter sich lassen. Oder womöglich gar nicht wahr haben, dass Sie eine Krise haben.

Ich habe nun drei Zitate aus dem Neuen Testament für Sie. Und die werfen ein etwas anderes Licht auf die persönliche Krise. Wundern Sie sich nicht: Sie finden das etwas altmodische Wort „Anfechtung“. Dieses Wort soll Sie darauf hinweisen: Für glaubende Menschen haben Krisen meistens auch eine Glaubens-Seite: Es gibt Lebenskrisen, die führen in eine Glaubenskrise. Es gibt Glaubenskrisen, die führen in eine Lebenskrise. Oder aber so rum: Der Glaube kann in der Krise helfen. Und: Die Krise kann im Glauben helfen …
Aber nun die drei Zitate:

Jesus zu seinen Jüngern, kurz vor seiner Gefangennahme: „Ihr seid es, die ihr ausgeharrt habt bei mir in meinen Anfechtungen.“ (Lukas 22, 28)

Paulus an die Gemeinde-Ältesten aus Ephesus: „Ich habe dem Herrn gedient in aller Demut und mit Tränen und unter Anfechtungen.“ (Apostelgeschichte 20, 19)

Jakobusbrief 1,2: Meine Brüder und Schwestern, erachtet es für lauter Freude, wenn ihr in mancherlei Anfechtung fallt.

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Psychotherapie und Seelsorge“ handelt von „spirituellen Krisen“. Ich durfte die Glosse schreiben. Solche Glossen schreibe ich gern ironisch und bösartig. Diesmal ebenfalls. Aber ich finde, es steckt auch für den Glauben was drin. Also „andachts-tauglich“. Ich zitiere mich deshalb heute selbst.
Lehnen Sie sich also zurück! Stellen Sie sich vor: Sie sind Seelsorgerin oder Therapeut mit christ-lichem Hintergrund und blättern in der neuesten Ausgabe von „Psychotherapie und Seelsorge“ …

Handtäschen-Krise

Na, haben Sie sie, die Krise? Vermutlich ja: Beziehungskrise, Midlife-Crisis, Ihre individuelle Fi-nanz¬krise. Oder es kriselt im Beruf. Oder die Stimmung allgemein. Oder Sie werfen einen Blick in das Zimmer Ihres heranwachsenden Sprosses – und kriegen die Krise. Irgendwas wird sich schon finden lassen an Krise.
Wäre jedenfalls ungewöhnlich, wenn Sie so gar keine Krise hätten. Immer passt irgendwas nicht. Das können Sie auch dem nächsten netten Menschen sagen, der Sie fragt: „Na, alles gut?“ – „Nee“, sagen Sie, „ich hab‘ eine Krise. Und wenn ich so blöd gefragt werde, verschärft sie sich.“
Wer als P&S-Leser oder -Leserin etwas auf sich hält, sollte immer eine kleine persönliche Krise mit sich führen. Die sensible Teilhabe an einer der großen Krisen (EU, Türkei, Ökologie, Hunger, AfD, Nordkorea, Terrorismus, Weltwirtschaft usw.) reicht nicht, es muss schon eine eigene, eine persönliche sein. Denn wenn bei Ihnen ohne Einschränkung alles super ist, zeigt das nur, wie unsensibel, undifferenziert und stumpf Sie sind. Kein Problembewusstsein, kein Zugang zu den ei-genen Gefühlen, keine Reflexion Ihrer Ambivalenzen. Man kann Sie so nicht auf andere Men¬schen loslassen.
Aber zu groß darf sie auch nicht sein, Ihre Krise. Wie wollen Sie schließlich andere beseelsorgen oder therapieren, wenn Sie Ihr eigenes Leben schon mal gar nicht auf die Kette bekommen? – „Anderen hat er geholfen – und kann sich selbst nicht helfen!“
Nein, so ein Handtäschen-Kriselchen sollte es sein: Sie können Ihre Krise leicht und locker tragen, Sie können sie auch ganz gut und ohne Scham anderen zeigen, sogar Ihrer Kundschaft. Das bringt Sie den Menschen nahe. – „Sieh her, ich habe auch meine Probleme. Ich bin nichts Besseres. Aber …!“ Aber – Sie haben die Krise im Griff. Dem Himmel sei Dank. Oder mehr noch Ihrer Reife, Ihrer Problemlöse-Kompetenz, Ihrem festen Glauben, Ihren wunderbaren Mitmenschen in Familie und Gemeinde. Halleluja!
Und nun auch noch: die „spirituelle Krise“! Wie, Sie hatten noch keine? Das könnte so kommen: eine Beziehungskrise kann man nur kriegen, wenn man eine Beziehung hat; eine Midlife-Crisis kriegt man nur, wenn man nicht schon in jungen Jahren gestorben ist; eine Finanzkrise kann Sie nur ereilen, wenn Sie jemals Geld hatten. „Spiritus“ heißt ja: „Geist“. Was das nun bedeuten kann, wenn Sie noch nie eine spirituelle Krise hatten, das überlasse ich jetzt Ihnen …
Aber vielleicht ist beim „Spirituellen“ ja ganz genau wie bei den anderen Krisen auch so ein Handtäschen-Kriselchen richtig und passend. Vielleicht so: Im Großen und Ganzen sind Sie seit Ihrer Geburt oder seit Ihrer Bekehrung im Glauben gewachsen, haben sich gefestigt, sind reifer, überzeugter, klüger, weiser geworden, nebenbei ein anständiger Mensch. Und das würde so weiter gehen, wenn noch Luft nach oben wäre.
Aber es gab natürlich auch so Pannen, eben Krisen: In der Pubertät hat Sie wie alle anderen diese oder jene existenzielle Frage erreicht. Sie haben Tagesschau geguckt. Sie haben das Tagebuch der Anne Frank – na ja, an-gelesen. Sie haben mehrere Tage nicht gebetet, und der Tod der Oma hat Sie ein Weilchen ins Grübeln gebracht. Aber über all das sind Sie nun hinweg, das war mal. Krise als Panne – Krise als Chance. Und Sie, Sie sind dran gewachsen. Sie können jetzt jedem Zweifelnden und Strauchelnden Mut machen: Das hatten Sie auch mal. Aber das wird auch wieder, mit Gottes Hilfe. Und wenn man nur dieses und jenes und treu und im Gebet und, und, und.
Sie merken schon: Die überwundene kleine spirituelle Krise, die ist ganz gut für das eigene Tiefen-Erleben wie für die Außen-Darstellung. Aber es darf natürlich nicht zu weit gehen: Gott – die blanke Wunsch-Projektion von uns schnell verglühenden Funken im Kosmos? Oder wenn die Archäologen Jesu Leichnam ausgraben würden? Oder wenn „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“ wirklich das allerletzte Wort ist? – Die „große“ spirituelle Krise, die hat es schon in sich, die kann einem schwindelig werden lassen. Aber die darf, nein, die kann ich ja unmöglich haben. Das schöne Modell vom Wachsen im Glauben und von Krise als Chance wäre angeschlagen. Nicht zu reden von der Außen-Wirkung unter den Frommen.
Was, sagt Martin Luther, braucht man zum Theologie-Studieren? Seine Antwort: oratio, meditatio, tentatio. Oratio, das ist das Gebet. Meditatio, das ist die intensive Auseinandersetzung mit der Heiligen Schrift. Und Tentatio, das ist die Anfechtung, also die spirituelle Krise. – „Denn sobald Gottes Wort ausgeht durch dich, so wird dich der Teufel heimsuchen, dich zum rechten Doktor machen und durch seine Anfechtung lehren, Gottes Wort zu suchen und zu lieben. Denn ich selber (…) habe sehr viel meinen Papisten zu danken, dass sie mich durch des Teufels Toben so zerschla-gen, bedrängt und geängstet (haben), das ist, einen rechten, guten Theologen gemacht haben …“.
Für unseren diesjährigen Jubilar Luther war die spirituelle Krise also nicht die kleine Panne in einem sonst schönen und stimmigen Glauben, sondern sie war schwer, bedrängend, ängstigend. Sie gehörte für Luther genau so mit dazu wie das Beten und die Bibel-Meditation. Mit ihm könnte man sagen: Wer nie eine spirituelle Krise hatte, der hat die größte aller möglichen spirituellen Krisen.
So ein Ärgernis, das uns der Reformator da auftischt! Gut, dass das 500 Jahre her ist. Wir wollen ja nicht ernsthaft kratzen lassen am frommen „Alles gut“ und am schönen Wachsen im Glauben.

Gebet:
Gott, Du weißt, was mich umtreibt und erschüttert. Und wie ich manchmal an Dir zweifle und verzweifle. Gott, wenn ich Dich verliere in meinem Tageslauf, wenn ich Dich verliere aus meinem Denken und aus meinem Herzen, dann bitte: Verliere Du mich nicht! Finde mich wieder! Amen