Leben – mehr als Stoffwechsel Wolf Biermann, Donnerndes Leben
Leben ist Stoffwechsel. So habe ich es im Biologie-Unterreicht gelernt. Das ist natürlich nur EINE Antwort. Ein etwas bösartiger Witz behauptet: Das Leben fängt da an, wo die Kinder aus dem Haus sind, der Hund begraben und der Partner / die Partnerin ganztägig außer Haus ist. Mag ja sein. Aber für manch einen fängt das Leben da nicht an, sondern es endet dort. Dieser oder jene versumpft dann neben der Kiste Bier auf der Terrasse. Der Traum von „Endlich frei!“ wird zum Albtraum.
Was ist Leben? LEBEN Sie? Wo ist der Punkt, an dem Sie sagen: „Also das ist doch kein Leben mehr!“? Manch einem, der so spricht, geht die Hoffnung verloren, dass es wieder Leben werden könnte. Gut, wenn man dann trotzdem Durchhaltevermögen hat. Wenn man der Hoffnung eine Chance gibt, dass sie zurückkommen kann. Und das Leben dann auch.
Wann ist das Leben kein Leben mehr? Wann ist es nicht lebenswert? Wie groß ist die Hoffnung, dass sich das nochmal ändert? Und wenn Leben eigentlich ein Geschenk ist, ich es aber nur noch als Last empfinde, darf ich das Geschenk auch zurück geben? Was kann helfen, das Leben auch unter schwierigen Bedingungen wirklich zu leben, mit Leben zu füllen?
Wir sind da schnell bei solchen Fragen wie: Was ist mit passiver und aktiver Sterbehilfe? Wie steht es mit lebens- bzw. sterbens- verlängernden Maßnahmen? Wie wünsche ich mir die allerletzte Phase meines Erdenlebens? Habe ich meine Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht fertig? – Aber mit diesen Fragen möchte ich uns jetzt nicht befassen – nicht mit dem Leben am Ende des Lebens, sondern mit dem Leben und dem Tod IM Leben.
Was steht in der Bibel, was Leben ist? Es gibt unterschiedliche Antworten. Gleich ganz vorn: Der göttliche Lebensatem, der aus dem Erd-Kloß den Menschen macht und dann auch das Tier. Im Neuen Testament ist es besonders das Johannes-Evangelium, das das eigentliche Leben mit Jesus Christus in Verbindung bringt: „Wer an mich glaubt, (…) der ist vom Tod ins Leben hindurch gedrungen!“; „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben!“; „Ich bin gekommen, dass sie das Leben in Fülle haben!“ Und dann natürlich die Osterbotschaft. – Auferweckung! Leben ganz bei Gott! Da endet das Leben nicht mit dem Stoffwechsel, sondern es beginnt mit dem Ende des Stoffwechsels.
Auch damit möchte ich Sie heute nicht beschäftigen, sondern mit drei Jesus-Geschichten: Geschichten, in denen Jesus Tote „wiederbelebt“. Ich spreche von Wiederbelebung, nicht von Auferweckung. Denn Auferweckung, das bedeutet ein ganz neues Sein, das ist etwas „anderes“. Aber unsere „Wiederbelebten“ setzen ihr Erdenleben fort. Bis sie dann doch irgendwann („wieder“) sterben.
- Die erste Geschichte: Die „Tochter des Jairus“. Die ist schwer krank. Die Eltern holen Jesus zur Hilfe, aber da ist sie schon gestorben. „Und er ergriff die Hand des Kindes und spricht zu ihm: Talita kum! Das ist übersetzt: Mädchen, ich sage dir, steh auf! Und sogleich stand das Mädchen auf und ging umher.“ (Markus 4, 41 f.)
- Die zweite Geschichte: Der „Jüngling zu Nain“. Jesus trifft auf einen Trauerzug: Einer Witwe ist nun auch noch der Sohn gestorben. Jesus hat Mitleid mit der Mutter. „Und er trat hinzu und rührte die Bahre an, die Träger aber standen still; und er sprach: Jüngling, ich sage dir, steh auf! Und der Tote setzte sich auf (…)“ (Lukas 7, 14 f.)
- Die dritte Geschichte: „Lazarus“. Lazarus, ein enger Jesus-Freund, ist schwer krank, seine Schwestern schicken nach Jesus um Hilfe. Aber der lässt auf sich warten. Als er schließlich doch kommt, liegt Lazarus schon seit Tagen in der Grabhöhle. „Und er rief mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Und der Verstorbene kam heraus, an Füßen und Händen mit Grabtüchern umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch umbunden.“ (Johannes 11, 43 f.)
Was ich nun NICHT empfehle: Diese Geschichten zu nehmen, um auf die „Wiederbelebung“ eines geliebten Menschen zu hoffen, wenn schon der Totenschein ausgestellt ist. Selbst wenn es das mal geben mag: Die Enttäuschung solcher Hoffnung wäre die Regel. „Christlich“ aus meiner Sicht wäre nicht die Hoffnung auf Wiederbelebung, sondern auf Auferweckung, und das ist etwas völlig anderes. Und es schafft Raum für Trauer.
Nein, ich will lieber so fragen: Was brauche ich, was brauchen Sie, wenn Sie innerlich erstorben sind? Innerlich – und vielleicht äußerlich erstarrt. Verstummt. Wenn Sie wie abgeschnitten von den anderen sind. – Sei es, dass Sie „weg“ sind, auch wenn andere um Sie herum sind (Tochter des Jairus, Jüngling zu Nain). Sei es, dass Ihre Wohnung zu so einem Schneckenhaus geworden ist wie die Gruft des Lazarus. Also: Was brauchen Sie da, um wieder zu leben?
In unseren Geschichten können wir dazu lesen, was Jesus diesen „Erstorbenen“ gibt:
- In zwei der drei Geschichten ist das Allererste die BERÜHRUNG. Nun müssen Sie wissen: Tote galten damals als kultisch unrein. Die packte man nicht einfach an. Aber Jesus tut das. Wer sich berühren lässt, der spürt neues Leben. Und ich meine das nicht nur im übertragenen Sinne, sondern auch wörtlich. – Wer könnte Ihnen mal die Hand geben? Wer würde Sie in den Arm nehmen? Und auch wenn es schwer fallen mag: Diesen Wunsch zu SAGEN, wird Ihnen leichter fallen als der Tochter des Jairus oder dem Jüngling zu Nain. Versuchen Sie’s!
- Jesus spricht alle drei „Erstorbenen“ direkt an. Er redet nicht als seine „Fälle“ ÜBER sie, sondern er redet MIT ihnen.
- Jesus fordert sie alle zum AUFSTEHEN (bzw. Hervorkommen) auf. Er nimmt ihnen das Aufstehen nicht ab, er traut es ihnen zu. Und so tun sie das Unmögliche.
Und nun? Alles wieder gut mit den Dreien? Nein, keine der Geschichten ENDET mit dem Aufstehen. Es kommt noch was hinter. Etwas, was die Betroffenen offenbar „zum Leben brauchen“:
- Den Eltern des Mädchens sagt Jesus, sie sollen ihr zu essen geben. So praktisch. Na klar, Essen und Trinken hält Leib und Seele zusammen. Vielleicht ist das auch auf Sie gemünzt – wenn gerade so eine Zeit ist, wo Ihnen nichts mehr schmeckt, wo Sie keinen Bissen mehr runter kriegen können, wo Sie am liebsten dünner und dünner wären und ganz verschwinden.
- Vom Jüngling heißt es: Er setzte sich auf – „und fing an zu reden“. WAS er da redet, lesen wir nicht. Ist wohl zweitrangig. Aber DASS er redet! Jesus muss ihm das noch nicht mal sagen. Neu leben und endlich den Mund auf bekommen, das ist hier geradezu dasselbe. Ob das bei Ihnen auch dran ist? Den Mund auf bekommen? Reden? Mag sein, Ihnen haben andere Menschen immer wieder den Mund verboten. Oder die anderen haben gelacht, wenn Sie was sagten. Oder weggehört. Vielleicht hat Ihre Angst Ihnen das Reden verboten, gerade über die schlimmen Dinge. – Und heute? Reden Sie! Trotzdem!
- Bei Lazarus hat Jesus eine Aufforderung an seine Mitmenschen. Denn als Lazarus vor die Grabhöhle tritt, ist er in seine Grabtücher eingewickelt. – Was sagt Jesus? „Macht ihn frei und lasst ihn gehen!” Wäre toll gewesen, wenn Lazarus selbst all das hätte abstreifen können, was ihn da bindet und knebelt. Jetzt sind die Leute gefragt. Die haben ihn ja schließlich eingewickelt und begraben. Die haben keinen Zweifel zugelassen: „Der ist für uns gestorben!“ Also: Dem Lazarus abnehmen, was ihn bindet. Und: „Ihn gehen lassen!“ Auch das muss manchmal sein, damit jemand leben kann.
Leben soll mehr sein als Stoffwechsel. Mehr als „nicht hirntot“, mehr als ein schlagendes Herz und ein hektischer oder flacher Atem.
WENN Sie leben: Freuen Sie sich dran und geben Sie Gott Ihr „Halleluja!“ Und wenn Sie NICHT leben: Geben Sie Ihre Hoffnung nicht auf! Finden Sie sie wieder! Lassen Sie sich ansprechen und berühren! Essen Sie, trinken Sie! Reden Sie! Lassen Sie sich dabei helfen abzustreifen, was Sie bindet! Um Jesu willen!
Gebet (mit Zitaten aus Psalm 88):
HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor Dir. Lass mein Gebet vor Dich kommen, neige deine Ohren zu meinem Schreien. Denn meine Seele ist übervoll an Leiden, und mein Leben ist nahe dem Tode. Du hast mich hinunter in die Grube gelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. Meine Freunde hast Du mir entfremdet. Ich liege gefangen und kann nicht heraus, mein Auge sehnt sich aus dem Elend. HERR, ich rufe zu Dir täglich. Ich breite meine Hände aus zu Dir. Ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich.