Liebe und Tabu
Was ist ein Liebesbrief? – Eigentlich müsste ich fragen: Was WAR ein Liebesbrief? Einen richtigen Liebesbrief schrieb man nämlich noch per Hand. Und das ist heutzutage ein bisschen aus der Mode gekommen, das Handschriftliche. Dabei bin ich ziemlich sicher: Ein handschriftlicher Brief „kommt besser an“. Und daran sollte dem Liebesbrief-Autor oder der Autorin doch gelegen sein. Also: Falls es bei Ihnen Zeit für einen Liebesbrief ist, nehmen Sie das Handschriftliche als „guten Rat“ mit. Und fangen Sie an zu schreiben, statt hier weiter zu lesen …
Was ist nun ein Liebesbrief? Ein glühender Liebhaber schreibt seiner angehimmelten Geliebten, wie wichtig sie ihm ist, dass er dauernd an sie denkt, voller Liebe und Sehnsucht ist, nach ihr schmachtet. Oder die Liebhaberin schreibt an den Geliebten Ähnliches. Oder, oder.
Der älteste Brief im Neuen Testament ist so ein Liebesbrief. Der Autor: Paulus. Die ersehnte Geliebte: die christliche Gemeinde in Thessalonich. Etwa aus dem Jahr 50 nach Christus. Abfassungsort: Wohl Korinth. Was allerdings für Liebesbriefe unüblich ist: Es gibt gleich am Anfang DREI Absender: Paulus und seine beiden Mitarbeiter Timotheus und Silvanus. Aber Paulus ist der Haupt-Autor, er wechselt öfters vom „wir“ ins „ich“.
Timotheus war gerade kürzlich in Thessalonich gewesen und hat gute Nachrichten von dort mitgebracht. Das ist wohl der Anlass des Briefes. Schauen wir mal indiskret in diesen Liebesbrief hinein:
Wir hielten es einfach nicht länger aus, ohne Nachricht von euch zu sein. Deswegen entschlossen wir uns, allein in Athen zu bleiben und unseren Bruder Timotheus zu euch zu schicken. (…).
Timotheus nun sollte euch ermutigen und in eurem Glauben stärken, damit ihr bei allem, was ihr augenblicklich erleiden müsst, standhaft bleibt.
Nun wollte ich aber genau wissen, wie es euch geht, und darum habe ich Timotheus zu euch geschickt. Er sollte mir berichten, ob euer Glaube all diesen Angriffen standgehalten hat oder ob euch der Versucher zu Fall bringen konnte. Dann allerdings wäre all unsere Arbeit vergeblich gewesen.
Doch jetzt ist Timotheus zurückgekehrt. Er hat uns gute Nachrichten von eurem Glauben und eurer Liebe gebracht und uns erzählt, dass ihr uns nicht vergessen habt, ja, dass ihr euch ein Wiedersehen ebenso sehnlich wünscht wie wir. Von eurem Glauben zu hören hat uns in unserer eigenen Not und Bedrängnis getröstet.
Jetzt haben wir wieder neuen Lebensmut, weil ihr unbeirrt beim Herrn bleibt. Wie sollen wir Gott nur dafür danken, dass er uns durch euch so viel Freude schenkt! Tag und Nacht bitten wir ihn um ein Wiedersehen mit euch. Denn wie gern würden wir euch helfen, dass ihr im Glauben weiter vorankommt.
So warten wir jetzt darauf, dass Gott, unser Vater, und Jesus, unser Herr, uns recht bald zu euch führen. Euch aber schenke der Herr immer größere Liebe zueinander und zu allen anderen Menschen; eine Liebe, wie wir sie auch für euch empfinden. So werdet ihr innerlich stark, ihr lebt ganz für Gott, unseren Vater, und könnt frei von aller Schuld vor ihn treten, wenn Jesus, unser Herr, kommt mit allen, die zu ihm gehören. (aus 1. Thessalonicher 3)
Es nicht länger aushalten können; es genau wissen wollen; den anderen nicht vergessen; ein Wiedersehen wünschen; getröstet sein; Lebensmut bekommen; danken; viel Freude; Tag und Nacht; helfen; immer größere Liebe. – Whow!
Paulus ist ein leidenschaftlicher Liebhaber. Nicht nur zu den Thessalonichern, sondern auch zu „seinen“ anderen Gemeinden. Hier in herzlicher Verbundenheit, dort in Streit, Kampf, unter Tränen. Manche halten Paulus ja für einen trockenen Theologen. Da habe ich einen Verdacht: Das liegt am „Römerbrief“. Dieses späte Grundsatzwerk des Apostels ist sein einziger Brief an eine Gemeinde, die er bis dahin nicht persönlich kennt. Aber gerade das Persönliche ist ja das Fundament für leidenschaftliches Füreinander, Miteinander und auch Gegeneinander.
„Nun wollte ich aber genau wissen, wie es euch geht“, schreibt Paulus. Ob in der Freundschaft oder in der Liebe: Ich möchte gern Anteil daran bekommen, wie es dem anderen geht. Und ich möchte Anteil daran geben, wie es mir geht. Man könnte vielleicht sagen: Je enger die Verbindung, desto „persönlicher“ die Themen.
Nun gibt es, so sagt man, drei große Tabu-Themen: Tod, Sex, Glaube. Davon sind zwar Fernsehen und Zeitschriften voll, darum drehen sich Nachrichten, Tratsch und Klatsch, besonders in den schrillen, krassen, spektakulären Formen. Aber wo es um den EIGENEN Tod, die EIGENE Sexualität, den EIGENEN Glauben geht – na, da ist dann doch eher Schweigen angesagt, da wird es zu persönlich. Und wenn dann doch jemand ganz unbekümmert und ungehemmt davon berichtet, dann geht es nur um einen dieser drei Bereiche. Der Mensch, der in allen drei Bereichen völlig offen wäre, ist mir, glaube ich, noch nicht begegnet.
Persönliche Themen oder gar Tabu-Themen finden sich allerdings im 1. Thessalonicherbrief. Sex und Tod kommen ein Kapitel weiter. Aber hier, in unserem Abschnitt: Es geht immer wieder um den – Glauben! Timotheus wird losgeschickt, um den Glauben der Thessalonicher zu stärken; er soll dann Paulus von ihrem Glauben berichten; Paulus macht sich um ihren Glauben Sorgen und freut sich nun, Gutes davon zu hören; er würde ihnen auch gern in Sachen „Glauben“ helfen.
Also: Paulus und die Thessalonicher befinden sich in einem ziemlich offenen, tabulosen Austausch über ihren Glauben. Dabei geht es nicht um die Richtigkeit von Glaubenssätzen, sondern um ihre Gottes-Beziehung, um ihr Lebensgespräch mit Gott. Und diese Beziehung ist eben mal so, mal so, sie verändert sich. Sie kann durch die Wechselfälle des Leben wachsen und reifen, aber auch Schaden nehmen, verkümmern.
So persönlich mit vertrauten Menschen über den Glauben zu reden, das finde ich selten. Und vorbildlich. – Oder weiß etwa jemand sonst, wie es um IHREN Glauben steht? Welche Dinge Sie da beschäftigen, was Ihr Gebetsleben so macht, wo Sie Ihre Sorgen und Nöte haben, wo glückliche Momente, oder wo Sie vielleicht drauf und dran sind, Ihre Scheidung von Gott einzureichen? Oder sich von ihm betrogen fühlen? Der ehrliche und persönliche Austausch – selten. UND manchmal sehr nötig. Wie bei den beiden anderen großen Tabu-Themen. Nicht nur allgemein, sondern persönlich.
Und wie? Wo? Mit wem drüber sprechen? Wer sowieso Glauben als Privatsache „pflegt“, wer Gemeinschaft unter dem Vorzeichen des Glaubens oder im Namen Gottes meidet, hat es da besonders schwer, dass ihm oder ihr dazu etwas einfällt.
Aber wenn Sie schon mit anderen im Glauben verbunden sind, dann sollten Sie sich mal trauen. Vielleicht unter vier Augen, vielleicht in kleiner Runde. Denn wenn Ihre Gottesbeziehung wirklich mehr ist und wichtiger ist als eines unter vielen Hobbys, dann ist sie es auch wert, sie gut zu pflegen. Und das heißt: Nicht mit allem allein klar kommen müssen. Sich auf die Suche machen, sich trauen. Tabus öffnen.
Gebet (aus einem Lied von Peter Rettinger):
Für Schwestern und Brüder / dank ich Dir, Herr, und will ihnen selbst Buder/Schwester sein.Will mit ihnen teilen, was Du mir geschenkt, und über sie alle mich freun.