Hesse, Stufen; Vertraut den neuen Wegen
Ich möchte Sie dafür gewinnen, Ihr Leben als eine Reise zu betrachten: Es gibt verschiedene Abschnitte, wechselnde Weg-Begleiter, Rast und Erholung, Anstrengung und Mühe, hoffentlich manche Ziele, aber natürlich auch Sackgassen, Umwege, Gefahren, Unfälle, ungewünschte Unterbrechungen und Pannen. Vor allem: Es gibt Aufbrüche. Immer wieder. Sonst blieben Sie ja stecken. Und immer wieder Ankommen. Sonst wäre alles nur ein atemloses Gerenne, und es würde sich niemals ein Gefühl davon einstellen, dass Sie an dem Ort sind, wo Sie jetzt gerade hin gehören, wo Sie zu Hause sind.
Vielleicht muss ich Sie geradezu für diese Sichtweise „Leben als Reise“ gewinnen. Falls Sie nämlich zu denjenigen gehören, die um jeden Preis festhalten wollen, bei denen unbedingt alles so bleiben muss, wie es ist. Menschen, die nicht älter werden dürfen, wo die Kinder nicht größer werden dürfen, und vor allem: Wo um nichts in der Welt Krankheit, Unfall oder gar der Tod ins Leben eintreten dürfen. Dieses „Bloß alles festhalten, wie es jetzt ist!“, das ist Erstarrung. Angst wird zur Grundstimmung. Also: Wenn Sie nicht nur ein bisschen, sondern oft und stark von Erstarrung und Angst befallen sind, dann möchte ich Sie erst recht für „Leben als Reise“ gewinnen, denn dann geht es um nicht weniger als um Ihre Lebendigkeit!
In unserem Bibeltext sind die Israeliten auf der Reise: Der Weg aus der Sklaverei in das „Gelobte Land“, in das Land, wo „Milch und Honig fließen“. Ein Weg durch die Wüste. Ein langer Weg. Mit Umwegen, mit Sackgassen. Auch mit Nicht-weiter-Wollen und Rückkehr-Wünschen. Aber auch ein Weg, auf dem Gott sie begleitet.
In der Mitte ihres mobilen Lagers haben sie gerade ihr ebenfalls mobiles „Gotteshaus“ – oder besser: „Gottes-Zelt“ – errichtet. Das „Zelt der Begegnung“, der Begegnung mit Gott. Dieser Mittelpunkt gewinnt in unserem Text Bedeutung für die weitere Reise – für die Zeiten des Aufbruchs wie des Bleibens. Und für die Weg-Richtung.
Dieses Gottes-Zelt allerdings steht erstmal nur da, es kann keine Zeiten und Richtung vorgeben, es ist kein Weg-Weiser. Sie werden gleich aber sehr wohl von „Weg-Weisern“ lesen: Immer wieder ist von einer Wolke die Rede und von einem feurigen Schein. Außerdem vom „Wort des HERRN“, von der „Weisung des HERRN“ und von „des HERRN Befehl“.
Sie ahnen es: Diese Reise ist für freiheitsliebende Menschen etwas unbequem: Die Israeliten sollen nicht einfach dahin gehen oder dort bleiben, wo es ihn gerade passt. Sondern: Es gibt Vorgaben. Was Sie als demokratisch und freiheitlich gesinnten Menschen allerdings von vornherein mit dem Text aussöhnen darf: Die einzige Autorität in dieser Geschichte für den weiteren Weg ist Gott. – Und nicht irgendwelche politischen, militärischen, wirtschaftlichen Machthaber oder Familienoberhäupter, die zu bestimmen hätten.
An dem Tage, da die Wohnung (d.h. das Gottes-Zelt, D.K.) aufgerichtet wurde, bedeckte eine Wolke die Wohnung, die Hütte des Gesetzes, und vom Abend bis zum Morgen stand sie über der Wohnung wie ein feuriger Schein. So geschah es die ganze Zeit, dass die Wolke sie bedeckte und bei Nacht ein feuriger Schein.
Ein wahrhaft heiliger Ort: Wolke und Feuerschein sind Zeichen von Gottes Gegenwart. Und erst Gottes Anwesenheit macht aus diesem von Menschen gestalteten Ort einen Raum für die Gottes-Begegnung. Ohne Gottes Nähe wäre der ganze finanzielle, handwerkliche, künstlerische Aufwand völlig für die Katz gewesen. Erst Gott „füllt“ das Ganze, und nun kann auch die Gestaltung dieses „mobilen“ heiligen Ortes transparent werden, durchscheinend für Gott.
So oft sich aber die Wolke von dem Zelt erhob, brachen die Israeliten auf. Und wo die Wolke sich niederließ, da lagerten sich die Israeliten. Nach dem Wort des HERRN brachen sie auf, und nach seinem Wort lagerten sie sich. So lange die Wolke auf der Wohnung blieb, so lange lagerten sie. Und wenn die Wolke viele Tage stehen blieb über der Wohnung, so beachteten die Israeliten die Weisung des HERRN und zogen nicht weiter.
Und wenn die Wolke auf der Wohnung nur wenige Tage blieb, so lagerten sie sich nach dem Wort des HERRN und brachen auf nach dem Wort des HERRN. Wenn die Wolke da war vom Abend bis zum Morgen und sich dann erhob, so zogen sie weiter; oder wenn sie sich bei Tage oder bei Nacht erhob, so brachen sie auch auf.
Wenn sie aber zwei Tage oder einen Monat oder noch länger auf der Wohnung blieb, so lagerten die Israeliten und zogen nicht weiter. Und wenn sie sich dann erhob, so brachen sie auf. Denn nach des HERRN Befehl lagerten sie sich, und nach des HERRN Befehl brachen sie auf und beachteten so die Weisung des HERRN, wie er sie durch Mose geboten hatte. (Numeri 9, 15-23)
Vielleicht gehören Sie wie ich zu den Leuten, für die ihr Terminkalender eine wichtige Rolle spielt: Der gibt den Takt vor, der ist das Maß aller – na ja, vieler – Dinge. Dann wäre so ein unkalkulierbares Hin und Her von Aufbuch und Sich-Lagern eine Katastrophe, da kann man doch verrückt bei werden, oder? In aller Ausführlichkeit bekommen Sie hier beschrieben, wie die Wolke bzw. der Feuerschein sich völlig willkürlich verhält, und man kann nichts vorhersagen: Aufbrüche auch zu den unmöglichsten Tages- bzw. Nacht-Zeiten. Mal ein paar Tage Rast, dann wieder über einen Monat. Keine Planung zu erkennen. Nichts, worauf Sie sich einstellen können. – Zum Aus-Rasten!
Aber: Die Israeliten rasten nicht aus. Sie sind einfach nur aufmerksam und wach dafür, was sich da bewegt in ihrer heiligen Mitte, am Zelt der Begegnung im Zentrum. Wahrscheinlich haben sie extra Wächter aufgestellt. Und: Sie sind stets auf Aufbruch eingestellt. Wer im entscheidenden Moment sagt: „Und ich dachte, hier würden wir nun endgültig bleiben!“, der hat schlagartig ein Problem.
Die göttliche Terminplanung – alles Willkür? Es sieht danach aus. Wer weiß, vielleicht können ein paar weise Leute einen sinnvollen Plan dahinter erkennen. Oder hoffen, dass sie den Plan später einmal erkennen. Nur: Davon steht kein Wort im Text! Es steht nicht einmal drin, dass die Leute nach einem Sinn gefragt und geforscht hätten oder darüber großartig diskutiert hätten.
Und da hatten die Leute damals mir etwas voraus: Da erahne ich vielleicht etwas als Gottes Willen und als seinen Weg für mich – aber ich hätte außerdem gern noch eine Erklärung, eine Antwort auf mein „Warum“, eine genaue Routenplanung. Und ich fange womöglich an, mit Gott zu hadern. Nichts gegen Hadern, wirklich nicht. Aber manchmal reicht vielleicht Vertrauen.
Wie es mir mit meinem Terminkalender quer kommt, wenn die Uhr meines Tages auf einmal ganz anders tickt, so kann es einem mit einem ausgefeilten Lebensplan gehen – wenn schon klar ist, welchen Beruf ich wähle, bis wohin ich es da bringe; wann und mit wem ich wie viele Kinder kriege und wo wir leben; welchen Platz in der Gesellschaft ich ausfüllen möchte, welche eigenen Interessen und gemeinnützigen Ziele ich verwirklichen will; in welchem Altenheim ich schon lange einen Platz reserviert habe und auf welchem Friedhof meine Grabstelle gepachtet ist, die ich dann – selbstverständlich hoch betagt – belegen werde.
Wolke und Feuerschein richten sich nicht immer nach meinem Lebens-Plan. Glücklich, wer auf Aufbruch eingestellt ist und auf Überraschungen! Und wer dabei auf Gott vertraut. Ohne zu viel Warum-Fragerei und noch so gut gemeinte Erklärungen und Deutungen. Glücklich, weil sooo viel unbeschwerte Freiheit darin liegt!
Gebet (nach „Kommt, Kinder, lasst uns gehen“, Str. 6, von G. Tersteegen; abgewandelt)
Auf Dein Wort wolln wir gehen, // Du, Vater, gehst ja mit!
Du selbst willst bei uns stehen // bei jedem sauren Tritt.
Du willst uns machen Mut // mit süßen Sonnenblicken
uns locken und erquicken; Ach ja, wir haben’s gut!