Der Weinstock Bei Dir, dem Weinstock; Psalm 1
Advent – Christus kommt! Und genauer? Das heutige „Ich bin“-Wort dazu lautet:
Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt, und ich in ihm, der bringt viel Frucht. Denn ohne mich könnt ihr nichts tun! (Johannes 15, 5)
Da lesen Sie zum einen, was Christus ist: „der Weinstock“. Und zum anderen, was seine Jüngerinnen und Jünger sind: „Reben“. Falls Sie sich zu dieser bunten Schar zugehörig fühlen, dann gilt das auch für Sie: Sie sind eine „Rebe“.
Ein Christus-Wort, das keine Rücksicht darauf nimmt, dass in meiner Gegend kein Wein angebaut wird. Ich habe mir das nie so richtig vorstellen können: Was genau ist der Weinstock, was genau sind die Reben? Ich habe mir nun viele, viele Bilder im Internet angeguckt – und bin nicht viel schlauer geworden. Auf schematischen Zeichnungen und Gemälden kann ich es einigermaßen auseinanderhalten. Jedoch auf Fotos mit lauter Holz, Blattwerk, üppigen Weintrauben? Schwierig!
Aber hätte Christus gesagt: „Ich bin der Stamm, ihr seid die Äste!“, es wäre nicht viel leichter gewesen: Wo genau endet der Stamm, wo genau fängt der Ast an? Wo genau endet der Ast, wo fängt der Zweig an? Was leichter zu bestimmen ist: die Grenze von Pflanze und Frucht. Die Grenze ist dort, wo die reife Frucht beim Pflücken abgeht oder von allein herunter fällt.
Weinstock und Rebe, die gehören ganz fest und nur mit roher Gewalt trennbar zusammen. Ich möchte das geradezu als Definition sagen:
Christsein bedeutet, mit Christus verwachsen zu sein.
Nun sagt Christus allerdings NICHT: „Ich bin der Weinstock, Du bist die Rebe!“ Nein, sondern die Mehrzahl: „Ich bin der Weinstock, IHR seid die Reben!“ Also: Ein einziger Weinstock – und viele Reben. Die Reben sind einander unterschiedlich nahe oder fern. Verwachsen sind sie aber nicht untereinander, sondern alle mit dem einen und einzigen Weinstock. Deswegen sind sie, so unterschiedlich sie sind, aus einem Holz. Das, was sie verbindet, ist der gemeinsame Weinstock. Alle Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten sind da zweitrangig. Deswegen noch eine Definition:
Christliche Gemeinschaft ist, durch Christus miteinander verbunden zu sein.
Manchmal sind die Reben eines Weinstocks sehr weit voneinander entfernt. Zwei Christen können allgemein als Menschen und speziell in ihrem Glauben sehr unterschiedlich sein. Zwei christliche Gemeinschaften können in ihrer Prägung so verschieden sein, dass sie sich strickt dagegen verwahren würden, mit den anderen in einen Topf geworfen zu werden. Ob zwei Christen-Menschen, zwei Gemeinschaften oder zwei Kirchen: Manchmal ist der Gedanke dringend nötig: „Wir gehören – trotzdem – zum selben Weinstock! Wir sind aus einem Holz!“
Und nun zur „Frucht“. Das also, was dabei herauskommt. Es gibt ja Leute, die glauben, darauf kommt es beim Christsein vor allem anderen an, auf die Frucht. Das Christentum als Hilfsmittel für ein gutes oder gar erfolgreiches Leben. Und für die Gesellschaft als Mittel zur Hebung der Moral und der Solidarität.
Ich lese unser Bibelwort da allerdings anders, und zwar aus mehreren Gründen:
- Die Rebe ist fest mit dem Weinstock verwachsen, nicht aber mit der Frucht. Sie machen als Rebe also etwas verkehrt, wenn Sie sich über Ihre „Frucht“, Ihre Leistung, Ihre Erfolge definieren – statt über den Weinstock!
- „Wer in mir bleibt …“, sagt Christus, und so wiederholt er es dann mehrfach. Kein einziger Appell, gute Früchte zu bringen, die Leistung zu steigern, die Ansprüche an sich selbst zu steigern, den Output zu erhöhen. Nein, nur dies: „In Christus bleiben!“ – Was ist mein Fundament? Woraus ziehe ich meine Lebenskraft? Noch kürzer: Nicht „machen“, sondern „bleiben“.
- Die Rebe hat es sowieso nicht in der Hand, was durch sie geschieht. Und überhaupt gibt es da verschiedene Faktoren, die eine Rolle spielen für die Frucht und für die Ernte: Der Standort, und wie der zu der Weinsorte passt. Das Wetter in dem betreffenden Jahr, die Pflege und, und, und.
Also: Schielen Sie als Rebe nicht so sehr auf die Frucht! Und wenn Sie doch mal schielen: Erwarten Sie als Weinrebe nicht, dass an Ihnen Pfirsiche wachsen – auch wenn alle anderen das von Ihnen erwarten! Vergleichen Sie „Ihre Frucht“ nicht mit anderen! Bilden Sie sich nicht ein, es käme nur auf die Menge oder gar auf den optischen Eindruck an!
Aber nochmal: Nicht auf die Frucht schielen, sondern im Weinstock bleiben!
Noch eine Definition?
Die „Frucht des Glaubens“ wächst an der Rebe, aber sie kommt vom Weinstock. Wenn die Verbindung zum Weinstock lebt, kann etwas wachsen.
Advent – wer kommt? Wenn in dieser Andacht von Ihnen als der Rebe so viel die Rede ist wie von Christus als dem Weinstock, dann liegt das in der Natur der Sache. Weil es „eigentlich“ eine einzige Pflanze ist. Notfalls käme der Weinstock ohne seine Reben klar – er könnte nämlich neue treiben. Aber das wäre schade. Und die Reben ohne Weinstock, die würden vertrocknen. Auch dann, wenn sie es nicht mal merken. Das wäre auch schade. Weinstock und Reben gehören zusammen, sie sind eins.
Advent – Ankunft. Jetzt haben Sie gar nichts über das KOMMEN gehört, sondern statt dessen über das BLEIBEN. In Christus bleiben, das ist etwas anderes als „ihn gut finden“, anderes als „an ihn glauben“, anderes auch als „bei ihm sein“. IN ihm BLEIBEN wie die Rebe im Weinstock – das wünsche ich mir. Vielleicht ist das auch Ihr Wunsch.
Gebet:
Christus, in Dir verwurzelt sein und in Dir bleiben, das steht nicht in meiner Macht. Sei Du es, der mich hält, der mich neu oder wieder zu Dir bringt! Amen.