Gnade. Jahreslosung 2012 (Andacht für Januar)

Der Du die Zeit in Händen hast

Jesus Christus spricht: Lass Dir an meiner Gnade genügen! Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig! (2. Korinther 12, 9)

Die Jahreslosung 2012. Ein Motto zum Sich-zu-Herzen-Nehmen soll das sein. Dieses Motto soll Sie begleiten. Ein Jahr lang, vielleicht länger.

Paulus ist der Empfänger dieses Satzes, er bekommt ihn von Christus gesagt. Aber weil der Satz nun Ihre Jahreslosung werden soll, tun wir mal so: Christus spricht Ihnen auf den Kopf zu: „Lass Dir an meiner Gnade genügen! Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“
Ein Sonntags-Satz, oder? Ein frommer Satz. Klingt altmodisch. Wie montags-tauglich ist er für Sie?

Schon das Wort „Gnade“ ist ja nicht in aller Munde. Davon hören Sie außer in der Kirche fast nur bei der Justiz. Da gibt es das Begnadigungs-Gesuch, den Gnaden-Weg und die Begnadigung. Begnadigung, nicht Freispruch. Freigesprochen werden Sie, wenn Sie es nicht gewesen sind oder man es Ihnen nicht nachweisen kann. Aber Sie können nur begnadigt werden, wenn Sie tatsächlich etwas ausgefressen haben und dafür auch verurteilt worden sind. Gute Führung und eine gute Prognose sind natürlich nützlich, aber letztendlich ist die Begnadigung ein „Geschenk“. Keine juristische Instanz und kein Ministerpräsident oder Bundespräsident muss Sie begnadigen. Dann wäre es ja keine Gnade mehr.

Ach ja, und dann gibt es noch begnadete Redner, begnadete Künstler, begnadete Zuhörer, begnadete Führungspersönlichkeiten. Die haben nicht unbedingt etwas ausgefressen, „begnadet“ ist etwas anderes als „begnadigt“. Es heißt nur: Diese Leute können etwas besonders gut. Und zwar nicht nur, weil sie so fleißig geübt haben, nein, es ist ihnen schon was davon „in die Wiege gelegt“ worden, es ist eine Begabung, eine Gabe. Da haben wir dann doch eine Gemeinsamkeit mit der Begnadigung des Straftäters: Es ist unverdient, es ist Geschenk.

Also: Gnade in der Kirche, Gnade mit den Verbrechern, begnadete Talente – mit all dem haben Sie womöglich nicht so viel zu tun. Und ich finde: Wir leben sowieso in einer ziemlich gnadenlosen Zeit und gnadenlosen Gesellschaft. Ich merke das in der Klinik im Gespräch mit Patienten:

  • Gnadenlose Arbeitswelt: Auf’s Ganze gesehen, scheinen gestiegen zu sein: Arbeitsdruck, Arbeitsdichte, Anforderungen, Konkurrenz unter Kollegen, Mobbing, der Anspruch, „alles zu geben“, jederzeit einsetzbar und immer gesund zu sein.
  • Gnadenlose Bildung: Ich höre von ähnlichen Trends in den Schulen und Universitäten.
  • Gnadenlose Eltern: Manchen Eltern sind ihre Kinder nicht aus sich selbst heraus liebens-wert. Dazu müssen sie erst brav sein, still, sauber, fleißig, kleine Genies, in der Schule sehr gut. Und bitte keinen eigenen Willen, keine abweichende Meinung! – Mit dem Ergebnis: Viele Kinder wachsen – trotz aller Bemühungen – mit dem Gefühl auf (oder schrumpfen seelisch), nicht zu genügen, nicht „richtig“ zu sein, kein Fundament zu haben.
  • Gnadenloser Umgang mit sich selbst: ein Perfektionismus mit völlig überhöhten Ansprüchen – und mit dem andauernden Gefühl, nicht gut genug zu sein, zu versagen, unwichtig, überflüssig, schlecht, böse, bestrafungswürdig zu sein. Der innere Antreiber, der innere Richter, der macht einen fertig.

Ich könnte noch lange weitermachen mit der „Gnadenlosigkeit“. Mit der Weltwirtschaft, mit den Tieren, mit Gewaltherrschaft, … Aber Sie merken auch so schon, wie die Gnadenlosigkeit klein und krank macht, schwächt und zerstört.

Sie ahnen vielleicht, wie so ein Satz „Lass Dir an meiner Gnade genügen!“ ein Schlag ins Gesicht des Zeitgeistes ist. Sprengstoff gegen eine Gesellschaft, die sich nicht zuerst als Liebes-, Solidaritäts- oder wenigstens Selbstentfaltungs-Gesellschaft versteht, sondern als „Leistungs“-Gesellschaft. „Gnade genügt!“ Was für ein Protestruf!

Und Sie ahnen vielleicht auch, was es ausmachen kann, wenn sich dieser „Gnade-genügt“-Hefepilz sich in Ihrem Herzen und Hirn ein Jahr lang ausbreitet. Wie Sie das ändern kann in dem, wie Sie sind, wie sich Ihr Leben anfühlt und wie Sie mit anderen leben.

Nun zu Paulus. Er spricht kurz vor diesem Satz von Christi Gnade von seiner eigenen Not, von einem „Dorn im Fleisch“ und den Faustschlägen von „Satans Engel“. Er redet da wohl von einer Krankheit. Vielleicht Epilepsie, vielleicht Depression, vielleicht etwas ganz anderes – oder vieles zugleich. Mehrfach hat er „zum Herrn gerufen“, also gebetet. Der Dorn im Fleisch sollte weg, die Schläge des Satans-Engels sollten aufhören. Paulus wollte wieder gesund sein, richtig durchstarten, ohne Handicaps zupacken, leistungsstark und ganz der Alte. – Aber Pustekuche. Alles Beten half nichts. Stattdessen wie eine Offenbarung dieser Satz seines Herrn Jesus Christus: „Lass Dir an meiner Gnade genügen …!“ So eine Zumutung für einen leidenden Menschen! Christi Gnade bedeutet hier nicht Genesung. Sondern: Christi Gnade genügtin der Krankheit und trotz der Krankheit!

Die Zumutung der Gnade Christi hat Paulus schon vorher einmal getroffen: Damals, als er noch kein Christ war, sondern Pharisäer, da war er unheimlich perfektionistisch darin, die religiösen Vorschriften penibel einzuhalten und seine religiösen Vorstellungen mit Eifer zu verbreiten. Später als Christ haben sich seine Grundüberzeugungen um 180 Grad gedreht – aber seinen Eifer hat er behalten. Er war und blieb ein totales Arbeitstier: Immer unterwegs, Beruf und Berufung parallel (Zeltmacher, Missionar), Schiffbrüche, Gefängnisaufenthalte, Gewalt- exzesse gegen ihn, viele Kritiker selbst unter den Christen. So einen selbstausbeuterischen Power-Paulus trifft eine Krankheit doppelt hart, es ist kaum auszuhalten, wenn der Körper (oder die Seele) einfach nicht mehr mitmacht, trotz (oder besser: wegen) aller Härte gegen sich selbst. „Des Satans Engel“ – eine Bremse. Eine Not-Bremse.

Deswegen ist dieser Satz „Lass Dir an meiner Gnade genügen!“ für den kranken Paulus wie für den Power-Paulus gleichermaßen ganz, ganz dringend nötig. – Paulus muss jetzt selbst das hören und in sich aufnehmen, was er „eigentlich“ längst den Leuten als frohe Botschaft erzählt hat: Er kann sich nichts erarbeiten und nichts verdienen vor Gott. Gott nimmt ihn an und vergibt ihm – aber nicht als Resultat von Anstrengung, Leistung, Selbstbestrafung, „guten Werken“, „guten Noten“ oder einer untadelige Gesinnung, sondern allein und ganz allein aus Gnade. „Geschenk“. Dafür, so sagte es Paulus selbst doch immer, steht Jesus Christus mit seinem Kreuzestod und seiner Auferweckung. Nun ist es Paulus, der sich sagen lassen muss, was er selbst so oft gepredigt hat. Der kranke Paulus, der doch so gern wieder in die Hände gespuckt und sich 150%ig wieder reingekniet hätte. Pustekuchen! Nur die Gnade!

„Denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ – Was für eine Kraft soll das sein? Diese Kraft Christi, die in dem Schwachen mächtig wird, ist gerade nicht wie der starke Bohnenkaffee, der mich noch wach hält und arbeiten lässt, wo ich eigentlich schon fix und fertig bin. Die Kraft Christi ist nicht die Party-Droge, die die kraftstrotzenden jungen Leute über die Grenze des Morgengrauens und der Erschöpfung hinaus tanzen lässt – bis zum Umfallen.
Diese so ganz andere Kraft Christi erwächst aus seiner Gnade: Wo ich mich angenommen und geliebt weiß als schwacher Mensch, mit meinen Unzulänglichkeiten und trotz meiner Schuld. – Das wäre doch stark, oder?

Sie sehen sich jetzt in Gefahr? Sie könnten mit so einer Jahreslosung nur noch schwach und schlaff in der Hängematte Ihres Lebens zerfließen und sich motivationslos bedienen lassen? – Sollte es so kommen, und sollte das ein Dauer-Zustand werden, können Sie sich ja immer noch privat eine andere Jahreslosung suchen. Wahrscheinlich ist diese Sorge aber unbegründet, wenn Sie rechtzeitig von Perfektionismus auf Christi Gnade umschalten.
Aber wenn Sie immer wieder an dem Punkt sind, dass Sie sich selbst nicht genügen, dann ist das genau Ihre richtige Losung: „Lass Dir an meiner Gnade genügen!“ Und: „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“

Gebet:

Christus, an der Schwelle zu 2012 bitte ich Dich: Komm mit der Kraft Deiner Gnade hinein in die Gnadenlosigkeiten zwischen den Nationen und Klassen, zu unseren Mitgeschöpfen, in die unbarmherzige Arbeitswelt und die Härte der Familien! Komm mit Deiner Gnade hinein in meinen Perfektionismus und mein Gefühl, nicht zu genügen. Deine Gnade genügt! Amen.

Dirk Klute