Der Du die Zeit in Händen hast
Wir haben hier keine bleibende Stadt…
(Hebräer 13, 14a)
Gleich so ein Kracher auf der Schwelle zum neuen Jahr 2013. Ein Satz, der einen depressiv machen kann. Der mich enttäuscht in meiner Sehnsucht nach Heimat. Nach dem Ort, wo ich wirklich hingehöre, wo ich bleiben will oder wohin ich zurück kann – immer.
Wobei: Heimat kann ich sowieso erst richtig spüren, wenn ich sie verloren habe. Ein Zehnjähriger, der bisher behütet aufgewachsen und nie länger aus seinem Dorf weggekommen ist, wird keine Vorstellung von „Heimat“ haben. Wenn er aber später mit 50 Jahren von einem ganz anderen Leben aus zurückblickt, vielleicht die alten Wege nochmal geht, den alten Baum berührt, auf dem Friedhof die Namen auf den Grabsteinen liest, dann wird er wohl sehr deutlich Heimat spüren – die von damals. Die, die er im Herzen hat – aber auch nur noch dort so richtig. Und vielleicht wird er sich in solchen Momenten reichlich unbehaust und unbeheimatet fühlen, ihm wird kühl.
Heimat ist mehr als ein Ort. Es ist all das, wozu ich eine besondere Bindung spüre, was mir durch und durch vertraut ist, wo ich hingehöre, was mich als den Menschen ausmacht, der ich im tiefsten Innern bin. Oder wenigstens: für den ich mich halte. Dazu gehören zum Beispiel:
- Lieder von früher, bei denen Ihnen das Herz aufgeht.
- Gegenstände: der Teddy, dem man ansieht, dass er viel geliebt ist; der erste Liebesbrief, ein bestimmtes zerfleddertes Buch, eine Pflanze, die Sie über die Jahre gebracht haben.
- Der Dialekt aus „Ihrer“ Gegend.
- Menschen. – Wie sie früher waren. Aus der Familie, Schulfreunde, die Kumpels aus der Clique. Oder Lieschen Müller, die ich so unsagbar beeindruckend fand, und ich hab’s ihr nie gesagt …
- Orte: der Weg, der Baum, das Haus, die Wiese, der Wald. Es kann bewegend sein, nach vielen Jahren Details wiederzuerkennen. Und enttäuschend, wenn etwas fehlt: „Mein Freund, der Baum, ist tot …“ (Alexandra)
- Speisen, Gerüche, das vertraute Pfeifen der Eisenbahn, …
Vielleicht ist Heimat eine bestimmte ZEIT, eine Phase in Ihrem Leben. – „Zu MEINER Zeit war das so und so …“. Damals, als Ihnen vieles so vertraut war, was Ihnen jetzt so verloren ist …
Ich hoffe mal, wenigstens so ein bisschen Heimat haben Sie in Ihrem Herzen. Dann wäre das jetzt der Moment für Sie, dass Sie für sich überlegen, was Ihre Heimat ausmacht. Wenn Sie sich Ihr ganz persönliches Heimat-Museum einrichten würden, was käme da rein? Welche Gegenstände? Welche Tagebuchnotizen? Welche Musik-Einspielungen? Welche Porträt-Aufnahmen? Welche Landschafts-Fotographien? Was alles würden Sie dabei empfinden?
So ein Projekt „mein persönliches Heimatmuseum“ wäre wahrscheinlich nicht nur die reine Freude: Sie könnten Heimweh bekommen und ein bisschen melancholisch werden:
- Vielleicht betrauern Sie, was Sie verloren haben.
- Vielleicht bemerken Sie: Sie sind im Leben noch nie so wirklich aufgebrochen und „in die Fremde“ gegangen!
- Sie machen die Entdeckung: Ich hatte noch nie eine Heimat! Nichts, dem ich mal vertraut war, kein Ort, wo ich hingehörte. Nie irgendwo richtig „angekommen“. Ein Flüchtling von Geburt an, viel Misstrauen, viel enttäuschtes Vertrauen. Vielleicht war Manches so unsagbar, undenkbar, unerinnerbar schlimm, dass das „Normale“ von früher sich faul und falsch anfühlt.
Ihr Heimat-Museum ist also nicht unbedingt ein fröhlicher Ort. Aber trotzdem ein wichtiger: Er führt Ihnen vor Augen, woher Sie kommen und wer Sie sind. Oder eher: Wer Sie waren? Denn das ist die Einseitigkeit des Heimat-Museums: Es geht um den Blick zurück: So WAR es. Aber so IST es nicht mehr. So bin ich nicht mehr, und die Welt ist auch eine andere.
„Wir haben hier keine bleibende Stadt …“ Aber damit ist unser Schreiber des Hebräerbriefs noch nicht fertig. Im Gegenteil, die Pointe kommt jetzt:
… sondern die zukünftige suchen wir!
Also: Unser Schreiber blickt auf der Suche nach dem Ort, wo er ganz und gar hin gehört, nicht zurück, sondern nach vorn! Und er sagt nicht „ich“, sondern „wir“! Dahinter steckt die Behauptung: So sind „die Christen“ drauf! Sie haben ihre Heimat nicht hinter sich, sondern vor sich!
Aber: Kann man mit einer Heimat vertraut sein, kann man sich da zugehörig fühlen, wenn man noch nie dort gewesen ist?
Ja, das geht! Sie können das manchmal in Auswandererfamilien finden. Da sind z.B. Deutsche nach Südamerika ausgewandert. Und dann gibt es lange, lange Zeit später Nachfahren, die noch nie in Deutschland gewesen sind. Aber sie pflegen die alte Sprache (in „ihrem“ Dialekt), pflegen Gebräuche, die sie für typisch halten, erzählen sich die alten Geschichten und träumen davon, mal dorthin zu reisen. Das ist so ein Beispiel für eine intensive, gefühlsbeladene Verwurzelung in der „alten Heimat“, obwohl man noch nie da gewesen ist und manche Vorstellungen ziemlich schräg sind.
So auch die Christen mit der „zukünftigen Stadt“, dem „neuen Jerusalem“, dem „Himmel“ oder wie auch immer: Sie waren alle noch nicht da, und es werden sicher auch manche schräge bis grottenfalsche Vorstellungen im Umlauf sein. Aber sie haben trotzdem eine Bindung an diese Heimat, diese wirkliche Heimat. Und das, was sie da vor sich haben, wirft ein Licht auf ihren Weg.
Gut phantasiert? Gut geträumt? Hängt das himmlische Jerusalem nicht reichlich in der Luft? – Schon, wenn man nichts anderes hat als seine Schlaraffenland-Phantasien. Aber der Schreiber des Hebräerbriefs ist da anders, denn er richtet zunächst den Blick zurück, bevor er ihn nach vorn lenkt. Hier unser Vers im Zusammenhang:
Jesus hat (…) gelitten draußen vor dem Tor [von Jerusalem; D.K.]. So lasst uns nun zu ihm hinaus gehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. (Hebräer 13, 12-14)
Der Blick geht zurück auf Jesus. Speziell auf seine Kreuzigung „draußen vor der Tür“ von Jerusalem – als Außen-Seiter, als Geschmähter. Damit auch der Hinweis: Wer an der Seite Christi ist, der kann nicht zugleich 100%ig an der Seite derjenigen sein, die Leute wie Jesus ans Kreuz schlagen. Der ist eher bei jenen „Randfiguren“, die Jesus besonders am Herzen lagen und liegen, und zwischen denen er sich immer wieder aufgehalten hat.
Der Blick zurück auf Jesus. Ich war noch nie im Himmel, da kenne ich mich nicht aus. Aber ich kann Jesus kennen. Und den Gott, für den Jesus steht. Ich darf es Jesus glauben, wenn er sagt: „Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt!“ Also: Ich habe keine wirkliche Ahnung, was mich erwartet in der „zukünftigen Stadt“. Aber ich darf haben eine Ahnung, WER mich erwartet. Das muss genügen. Und das genügt auch. Heimat ist in den offenen Armen des himmlischen Vaters. – Der mir in Jesus schon jetzt zur Seite ist und an meiner Seite geht. Durch ihn habe ich schon auf dem Weg etwas von dieser zukünftigen Heimat. Ich bin noch nicht da – und bin es doch schon.
Und was heißt das nun alles auf der Schwelle zum Jahr 2013? Für mich heißt das:
- Ich darf nach hinten schauen auf das, woher ich komme. Vielleicht mit Dankbarkeit, vielleicht mit Wehmut und Schmerz, wahrscheinlich mit allem davon. Aber: Das, woher ich komme, das soll nicht meinen Blick fesseln, nicht mein Herz knebeln und quälen.
- 2012 und 2013, das sind Weg-Abschnitte. Ich bin auf der Durchreise. Ich darf Gott um seinen Segen für meine Lebensreise bitten. Und ich darf Lasten abwerfen, die mir das Leben unnötig anstrengend machen. Lasten aus meiner Wohnung, aus meinen Gedanken, von meinem Herzen. Vielleicht schenkt es mir Gott, einigermaßen leichtfüßig an seiner Seite zu gehen.
- Meine wahre Heimat liegt vor mir. Ich bin noch nicht fertig, bin noch nicht da. Aber ich darf mich auf Gottes Vollendung freuen. Gott macht es gut. Alles.
Gebet (aus dem Lied „Das Jahr geht still zuende“):
O das ist sichres Gehen
durch diese Erdenzeit:
nur immer vorwärts sehen
mit sel’ger Freudigkeit;
wird uns durch Grabeshügel
der klare Blick verbaut,
Herr, gib der Seele Flügel,
daß sie hinüberschaut.
Hilf du uns durch die Zeiten
und mache fest das Herz,
geh selber uns zur Seiten
und führ uns heimatwärts.
Und ist es uns hienieden
so öde, so allein,
o lass in deinem Frieden
uns hier schon selig sein.
Dirk Klute