Mt 23: keinen „Vater“ nennen!
Und? Kennen Sie Abraham? Nein? Dann wird es Zeit. Abraham ist einer der ganz wichtigen Leute in der Bibel, einer der „Stammväter“ Israels. Und Jakob? Kennen Sie den? Jakob ist Abrahams Enkel. Auch einer der „Stammväter“. Dazwischen ist Isaak, aber um den herum gibt es weniger Geschichten. Und dann die Stamm-Mütter: Sarai, Rebecca, Rahel, Lea. Jawohl, vier, nicht drei. Denn Jakob hatte zwei Frauen.
Nun sagen Sie vielleicht: „Namen sind Schall und Rauch!“ Wahrscheinlich können Sie von sich sagen: „Abraham mag ja Stamm-Vater Israels sein, aber zu meiner Verwandtschaft und zu meiner Ahnenreihe gehört er nicht!“
O.K., dann kommen wir zu einem Thema, an dem Sie dichter dran sind – und das vielleicht etwas heikler ist: Kennen Sie Ihre eigenen Eltern?
Wer sind Ihre Eltern? Wenn Sie diese Frage biologisch verstehen, dann kann es sein, dass Sie zwar Abraham kennen, aber Ihren Vater kein bisschen. Oder Sie denken, Sie kennen Ihren biologischen Vater, aber Sie irren sich. Was die Mutter betrifft, sind diese Dinge meist klarer: Wer Sie mal zur Welt gebracht hat, darüber muss man nur selten spekulieren. Manchmal aber doch: Wenn Sie z.B. in einer Adoptiv-Familie aufgewachsen sind, und Sie kennen Ihre leibliche Mutter nicht, kann das für Sie ein großes Thema sein …
Dann sind da die „sozialen“ Eltern: Menschen, die eine Eltern-Rolle einnehmen. Vielleicht waren Ihre biologischen und Ihre sozialen Eltern dieselben Personen, wie es meistens so ist. Oder die „sozialen“ Eltern-Teile waren andere, z.B. Stiefeltern, Pflegeeltern, Adoptiveltern, Großeltern (wenn die leiblichen Eltern ausfielen), Lehrer, Erzieher, …
Kennen Sie Ihre „sozialen“ Eltern? Wenn Sie lange miteinander unter einem Dach gelebt und manche Stückchen Alltag miteinander geteilt haben, sollte man das meinen. Aber trotzdem kann einen manchmal der Gedanke beschleichen: „Meine Eltern kenne ich gar nicht wirklich!“ Oder, wenn sie verstorben oder sich auf andere Weise aus Ihrem Leben gegangen sind: „Meine Eltern habe ich gar nicht wirklich gekannt!“
Dieses „Ich kenne meine Eltern gar nicht!“ werden Sie vor allem dann erleben, wenn Sie Ihren Eltern in ungewohnten Situationen begegnen. Oder wenn die Eltern sich durch die Jahre oder durch Krankheit verändert haben. Oder wenn Sie im Erbe Fotos oder Papiere entdecken, die ungewohnte, überraschende, vielleicht erschreckende Seiten offenbaren. Oder: Wenn Erinnerungen aus alter Zeit hochkommen, die bis gestern gar nicht zu Ihrem Eltern-Bild gepasst hätten … – Überraschung, Verwunderung, Fremdheit, vielleicht Entsetzen.
Übrigens kann es umgekehrt Eltern mit ihren Kindern ganz ähnlich ergehen. Solche elterlichen Fremdheits-Erlebnisse lassen sich mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Pubertät und die Folgejahre voraussagen: Plötzlich erkennen die Eltern ihren „lieben Jungen“ und das „süße Mädchen“ einfach nicht mehr wieder, und nicht immer sind sie von den Veränderungen und Entwicklungen beglückt. Eher „befremdet“.
Sie merken: Auf der Eltern-Kind-Beziehung lasten für viele Leute ganz große Erwartungen und Sehnsüchte von Einander-Kennen, Zueinander-Gehören, von Heimat und Da-gehöre-ich-hin, von Liebe und Geborgenheit. Diese Erwartungen und Sehnsüchte „lasten“ oft deswegen, weil sie an der Realität scheitern. Weil Menschen nicht allein schon dadurch bessere Menschen sind, weil sie meine Eltern oder meine Kinder sind. Weil es unterschiedliche Vorstellungen, Interessen, Lebensentwürfe gibt. Weil Zueinander-Gehören und Freiheit immer in einem Spannungsverhältnis stehen. Weil es auch in den allerbesten Eltern-Kind-Beziehungen viele kleine und die ganz großen Abschiede geben muss. Und weil es das Gegenteil der „allerbesten“ Eltern-Kind-Beziehungen gibt: Beziehungen, die die Hölle sind …
Zurück zu Abraham. Zum Stamm-Vater. Im Volk Israel war und ist es für viele Menschen wichtig, zu seinen Nachfahren zu gehören. Auch wenn Abraham lange, lange vor einem selbst gelebt hat. Und zu denen zu gehören, die sich zu seinen Kindern rechnen.
In unserem Bibeltext heute kommen wir nun aber in eine Situation, in der diese „Elternschaft“ in die Krise geraten ist: Überschrieben ist der Abschnitt, aus dem ich gleich zitiere, in meiner Luther-Übersetzung mit „Buß- und Bittgebet des Gottesvolkes“. Der Hintergrund: Nachdem schon vor vielen Jahrzehnten der Staat dieses „Gottesvolkes“ untergegangen und mehrere tausend Leute deportiert waren und es auch lange blieben, hatte es einen kleinen Neuanfang gegeben, die Deportierten durften zurück, man fing an aufzubauen. Doch in den Jahren und Jahrzehnten gab es immer wieder Rückschläge, die Frustration war manchmal groß. Und da heißt es nun in unserem „Buß- und Bittgebet“:
Herr, sieh herab von deinem Himmel, wo du in Heiligkeit und Hoheit thronst! Wo ist deine brennende Liebe zu uns? Wo ist deine unvergleichliche Macht? Hast du kein Erbarmen mehr mit uns? Wir spüren nichts davon, dass du uns liebst!
So, und nun kommen wir zu Abraham und zur Vaterschaft:
Herr, du bist doch unser Vater! Abraham weiß nichts von uns, auch Jakob kennt uns nicht. Unsere Stammväter können uns nicht helfen. Aber du, Herr, bist unser wahrer Vater! »Unser Befreier seit Urzeiten« – das ist dein Name. (alles: Jesaja 63, 15-16)
Unser Beter erklärt hier Gott zum Vater! Gott als Vater oder als Mutter, das finden Sie im Alten Testament sonst nur ganz, ganz selten.
Diese Vaterschafts-Erklärung passiert in einer Zeit, in der die Erinnerung an den verehrten Vater Abraham einfach nicht mehr trägt, in der die guten Phasen in der Geschichte verblassen: „Abraham weiß nichts von uns, auch Jakob kennt uns nicht!“ Die Überväter von damals, sie kennen einen nicht mehr.
Reale Eltern, Ihre Eltern oder die einer ganzen Nation, sie bleiben immer hinter dem Ideal zurück. Und irgendwann sind sie Vergangenheit. Was aber zählt, ist, was jetzt, in der Gegenwart, hält, trägt, hilft.
Für unseren Beter sind Abraham und Jakob Vergangenheit. Gott ist der eigentliche Vater Israels, und der Beter will Gott an diese Vaterschaft erinnern. Damit ist die Vergangenheit nicht einfach „vergessen“. Aber Gott, „unser Befreier seit Urzeiten“, er ist heute der Adressat dieses Gebetes, er ist eben nicht „nur“ Vergangenheit. Gott ist gegenwärtig. Und: Er soll die Zukunft in seine Hand nehmen! Deswegen liegt unser Beter ja Gott so in den Ohren.
Ob das klappt? Ob bald alles gut wird? Von „Glaubensgewissheit“ ist in dem ganzen, viel längeren Gebet nicht die Rede. Keine Garantie. Aber ein Vater, der Vater, der hört.
Nun wieder zu uns. Es gibt Abschnitte auf dem Lebensweg, da brauchen Sie dringend Vater und Mutter. Dazu müssen Sie nicht Säugling sein, das kann Ihnen auch im hohen Alter noch passieren. Da brauchen Sie Vater und Mutter, auch wenn Sie sie nie gehabt, immer nur ersehnt oder die Sehnsucht beiseite geschoben haben.
„Abraham weiß nichts von uns, auch Jakob kennt uns nicht. Unsere Stammväter können uns nicht helfen.“ Auf solchen Lebensweg-Abschnitten nützt es der Sehnsucht zum Trotz wenig, alle Hoffnungen auf die eigenen „biologischen“ oder „sozialen“ Eltern zu setzen, wenn die nicht mehr können oder schon gestorben sind. Oder wenn diese Eltern auch schon früher ihr Eltern-Sein nicht verantwortlich leben konnten oder leben wollten.
„Du bist doch unser Vater!“ Der Ruf an Gottes Adresse. Gott als „Ersatz-Eltern“? Nein! Denn: „Du, Herr, bist unser wahrer Vater!“ Es ist umgekehrt: Die Eltern auf zwei Beinen sind immer nur mehr oder weniger gute und manchmal schlechte Ersatz-Eltern. Gott ist wahrer Vater, wahre Mutter! Das vor Augen zu haben, ist mir persönlich wichtig, als „Vater“ wie als „Kind“.
Auch die Elternschaft Gottes ist nicht frei von Enttäuschung. Es wäre verkehrt, solche Enttäuschungen unter den Teppich zu kehren. Und doch: Eine Elternschaft für ein ganzes Leben – und darüber hinaus. Darum: Erwarten Sie ruhig etwas von Menschen – aber nicht zu viel! Und erwarten Sie ruhig etwas von Gott – aber nicht zu wenig!
Gebet (nach Jesaja 63):
Dirk Klute