Lob des Misstrauens (Andacht für Juni)

Psalm 41

Ein schönes Bild: Zwei Menschen sind gemeinsam unterwegs. Sie halten einander. Einer von beiden ist blind, der andere führt ihn. Gemeinsam gehen sie ihren Weg, den der eine, der Blinde, sich allein nie zugetraut hätte.
Dann plötzlich kippt das Bild – im wahrtsen Sinne des Wortes: Eine Grube. Die beiden gehen darauf zu, bemerken nichts, stürzen hinein. Warum nur? Antwort: Nicht nur der eine war blind. Der andere auch.

(Jesus) sagte aber auch ein Gleichnis zu ihnen: Kann etwa ein Blinder einen Blinden leiten? Werden nicht beide in eine Grube fallen? (Lukas 6, 39)

Wenn Sie abgestürzt sind, tief gefallen, ganz unten angekommen, dann sind Sie gut beraten, nicht allzu lange da unten schweigsam liegen zu bleiben. Vielleicht können Sie sich berappeln, womöglich herauskrabbeln, sicher können Sie um Hilfe rufen.

Und wenn das passiert ist, wenn Sie aus dem Gröbsten raus sind, können Sie sich den Blick zurück leisten: Was ist passiert? Wie konnte ich nur so abstürzen? Und wie bin ich wieder rausgekommen? Dieser Blick zurück ist zugleich ein Blick nach vorn: Er kann helfen, dass Sie das nächsten Mal einen Bogen um die Grube herum hinbekommen. Oder Sie schütten sie zu.

Nun ist es ein bisschen zynisch, ausgerechnet bei zwei Blinden vom „Blick“ zurück und „Blick“ nach vorn zu sprechen. Ich frage aber trotzdem: Was haben die beiden falsch gemacht?
Der eine, der Geführte, war so dumm, dem anderen zu vertrauen und sich ihm anzuvertrauen. – Andererseits: Was hätte er denn anderes machen sollen? Wie hätte er denn überprüfen können, ob der andere wirklich mehr sieht, wirklich besser orientiert ist als er selbst? Das ist nicht so leicht als Blinder. Und doch: Es hätte Möglichkeiten gegeben. Offenbar haben die beiden einander noch nicht so lange gekannt, sonst hätte der Geführte das schon längst spitz bekommen und sich in acht genommen. Bevor ich mich so ganz und gar auf jemanden verlasse, ist es schon gut, ihn ein Weilchen zu kennen. Außerdem tut der Geführte hier so, als gäbe es nur diese beiden Menschen auf der ganzen Welt. Er hätte ja noch ein paar andere fragen können. Und einer von den anderen hätte vielleicht auch gesagt: „Also dein Kumpel, mit dem kannst Du bestimmt gut Kaffee trinken. Aber über das Feld mit den Gruben solltest Du nicht mit ihm laufen!“

Und der Führende? Boshaftigkeit war es wohl nicht, sonst hätte er dafür gesorgt, dass er selbst oben geblieben wäre. Ich tippe auf Selbstüberschätzung: „Ich sehe das schon alles gut genug! Ich weiß, wo’s lang geht! Mir kann nichts passieren!“ Und obendrein ein Schuss Helfersyndrom: „Dem armen Blinden muss doch geholfen werden! Den kann ich doch nicht allein da rumtapsen lassen! Und wie gut, dass er mich hat!“ Auf die eine oder andere Art blind zu sein, damit kann man leben. Aber wer nicht mal seine eigene Blindheit sehen will, hat ein Problem.

Vielleicht sind das für Sie überraschende Töne in einer Andacht. Von Andachten werden Sie es eher gewohnt sein, zum Vertrauen ermutigt zu werden. Dazu, die helfende Hand zu ergreifen. Oder selbst eine helfende Hand hinzustrecken. Ist auch alles schön und gut.
Ja, Vertrauen ist klasse. Nur bitte: Nicht „blind-links“ dem anderen vertrauen! Nicht von jetzt auf gleich, denn Vertrauen muss wachsen. Sie müssen erstmal die „Ein-Sicht“ gewinnen, was Sie dem anderen zutrauen dürfen und was lieber nicht. Und die helfende Hand von jemandem, der es dauernd besser meint, als er es kann, ist nicht immer die ganz große Hilfe. Gar nicht zu reden von Leuten mit warmen Worten und bösen Absichten.

Sie sollten sich auch nicht pauschal einreden lassen, wie blind Sie sind. Manchmal hilft es, endlich selbst mal die eigenen Augen aufzumachen und wirklich hinzugucken! Und wenn das nicht klappt, gibt es Brillen oder notfalls Blindenstöcke. Sie können dann trotzdem mit anderen unterwegs sein, auch mit anderen Blinden. Aber es muss nicht dauernd am Händchen sein und nicht immer gegängelt. Der eigene Blick, die eigene Richtung, eigene Schritte!

Selbst-Vertrauen ist auch klasse. Aber das ist etwas anderes als Selbstüberschätzung. Und wenn Sie meinen, Sie könnten fliegen, probieren Sie’s von der Parkbank aus, nicht vom zweiten Stockwerk! Dann ist es nicht so hart, wenn Sie an Grenzen stoßen, mit denen Sie eigentlich gar nicht mehr gerechnet haben, dann können Sie nicht gar so tief fallen.

Anderen Ihre helfende Hand hinzustrecken, das ist auch klasse. Nur bitte: Kann Ihre Hand das, was der andere braucht? Kann sie es, wenn nötig, über den Moment hinaus? Haben Sie bedacht, dass Sie innerhalb eines Tages maximal nur zwei Hände haben? Haben Sie überprüft, ob Ihre Hand dabei mehr dem anderen oder dem eigenen Ego hilft? Nichts gegen Ihr Ego! Nur: Sie könnten sich schnell für sehender halten, als Sie sind. Und den anderen für blinder erklären, als er ist. Sie könnten den anderen auch dann noch „liebevoll“ festhalten, wenn der viel besser eigene Schritte wagen würde.

Kann etwa ein Blinder einen Blinden leiten? Werden nicht beide in eine Grube fallen?

Besser wäre: ein Blinder und ein Rollstuhlfahrer. Der eine geht und schiebt für beide, der andere sieht für beide. Und keinen müsste es wurmen, immer nur zu geben und immer nur zu nehmen. Jeder weiß um die eigenen Stärken und Schwächen, jeder kennt aber auch die Stärken und Schwächen des anderen. Auf der Basis ist Vertrauen passender: Vertrauen in den anderen ebenso wie Selbstvertrauen.

Also: Vertrauen ist gut. Misstrauen auch. Alles zu seiner Zeit, alles an seinem passenden Ort.
Und Gott-Vertrauen? Ich bin sehr dafür. Vertrauen in den Gott „Jahwe“, in den „Ich-bin-da“. Vertrauen darin, dass Gott in allem und trotz allem da ist und da bleibt. Oder mir wenigstens wiederkommen wird. Das ist aber ein anderes Vertrauen als darauf zu setzen, dass Gott dreimal täglich für die passenden Richtungsentscheidungen bei mir sorgt, fehlerfrei. Der Volksmund weiß das schon länger: „Gottes Mühlen mahlen langsam“. Oft jedenfalls.

Gottes Hand, in die ich meine legen kann? Ja! Aber nicht „führend“ in dem Sinne, dass ich jetzt schon spüre: Nächste Straße rechts, dann dritte links. – Nein. Sondern mehr haltend. Auch dieses „Ich-bin-da“. Ich glaube nicht, dass Gott mich vor jedem Absturz bewahrt. Aber ich hoffe, dass Gott noch in der Grube bei mir ist. Oder auf Hügeln wie meinem Golgatha.

Also, auch bei Gott-Vertrauen: Bewahren Sie sich Misstrauen gegen flotte Antworten! Auch dann, wenn diese flotten Antworten von wohlmeinenden Christen oder direkt aus der Bibel kommen! – Paulus sagt: „Prüfet alles – und das Gute behaltet!“ Also: Machen Sie die eigenen Augen auf und sehen Sie hin! Und falls Sie dann immer noch blind sind, nehmen Sie Ihren Blindenstock und spüren Sie hin! Und vertrauen Sie anderen umso mehr, je mehr Ihr Vertrauen gewachsen ist und Sie sich und den anderen mit den wichtigsten Stärken und Schwächen kennen! Und: Bleiben Sie an Gottes Hand! Gott hält Sie auch noch am Boden der Grube.

Gebet:

Gott, so oft bin ich gefallen. Danke für die Male, wo ich wieder aufstehen konnte! Und danke für Deine Nähe gerade da, wo ich ganz unten bin! Amen.

Dirk Klute