Psalm 22
Doch Jesus schrie noch einmal laut auf und starb. Da zerriss der Vorhang vor dem Allerheiligsten im Tempel von oben bis unten. (Matthäus 27, 45-51a)
Ein Hügel, „Golgatha“, draußen vor der Stadt. Drei Menschen sterben. Kein friedliches „Einschlafen“, keine schmerzlindernden Medikamente, keine segnende Hand. Nackt und blutend, der Schmerz, gaffende Blicke, Spott. In dieser Körperhaltung können die Verurteilten kaum noch viel länger atmen.
„Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen???“ Einer der Drei schreit das mit letzter Luft und letzter Kraft. Was für ein Spagat: So fängt Psalm 22 an. Jesus, der fromme Jude, betet in der Stunde seines Todes einen Psalm. Und zugleich: Jesus schreit seine Gottverlassenheit diesem Gott entgegen. Dem Gott, den er früher ganz vertraut und zärtlich „Abba“ – „Papa“ – nannte. Der Gott, dessen Herrschaft er den Leuten angesagt und gebracht hatte. Aber jetzt: Keine rettende Hand, die ihn vom Kreuz nimmt, nicht einmal ein erlösendes Koma. Es ist die Hölle. Dann ein letzter Schrei in diese sonnenfinstere Nachmittagsstunde hinein. Jesus ist tot. Die beiden anderen rechts und links von ihm haben es noch nicht geschafft.
Szenenwechsel: Mitten in der Stadt der prachtvolle Tempel. Zwar seit fast 50 Jahren eine Baustelle, aber er ist schon längst in Betrieb. Hierher pilgern die Leute, wollen Gott nahe sein. Jetzt zum Passahfest herrscht Hochbetrieb. Ein Kommen und Gehen. Lob und Dank, Klagen, Bitten, Opfern, Feiern. Plötzlich: ein Riss. Der Vorhang zum „Allerheiligsten“ – von oben bis unten gerissen. Der Menge bleibt der Riss verborgen. In den hochheiligen Innenbezirk dürfen die Normalbürger ja gar nicht hinein. Und ins „Allerheiligste“ nur der Oberste Priester, einmal jährlich. Ausgerechnet dieser Vorhang zum Allerheiligsten ist gerissen. Mittendurch.
Zwei Ereignisse: ein brutaler Justizmord und ein Riss in einem Vorhang. Wenige Kilometer dazwischen. Und doch in zwei völlig verschiedenen Welten: Die Welt „Golgatha“ ist in diesen Stunden für drei Menschen die Hölle. Die Welt „Tempel“, die ist voller Heiligkeit, Weihrauchduft, Gewänder, Kunst, Kult. Ein bisschen wie Himmel. Drei der vier Evangelisten erzählen uns von diesen beiden Ereignissen – in einer Stadt, in zwei Welten. Sie ziehen eine Verbindung zwischen diesen Welten, zwischen Himmel und Hölle.
Nochmal Szenenwechsel: Rückblende, weit über 1000 Jahre zurück. Gott hat die Israeliten aus der Sklaverei geführt. Sie ziehen nun durch die Wüste. Jetzt gibt Gott ihnen den Auftrag, das „Zelt der Begegnung“ zu bauen, eine Art mobiler Tempel. Aus den Plänen ein Detail:
Der Vorhang als „Scheidewand“. Er trennt: Auf der einen Seite der Bereich, wo die Priester ein und aus gehen. Hinter dem Vorhang: Das „Allerheiligste“. Dort die Zeichen göttlicher Gegenwart. Dieser Teil ist tabu. Gottes Heiligkeit ist geschützt. Vielleicht auch als Schutz der Menschen: So unmittelbar und eindringlich kann die Nähe des heiligen Gottes sein, dass sie die unheiligen Menschen überfordert, dass sie schier vergehen müssten. Da braucht man Schutz – wie der Oberste Priester, der einmal jährlich am Versöhnungstag hinein geht. Ihn schützen sein Amt, seine Rituale, sein Verstand und seine Lehrmeinung.
Und nun: Der Vorhang ist zerrissen! „Nur“ ein Vorhang, aber seine symbolische Kraft ist stärker als die Tür eines Panzerschranks. Der Weg ist frei: Der Weg des heiligen Gottes zu seinen Menschen, der Weg der Menschenkinder zu Gott. Niemand muss an seiner Gottesferne zugrunde gehen, und niemand soll mit seiner Unheiligkeit in der Nähe Gottes vergehen.
Was immer an jenem Karfreitag im Tempel in Jerusalem passiert sein mag: Eigentlich ist dieser Tempelvorhang, diese „Scheidewand“, auf dem Hinrichtungshügel Golgatha zerrissen. Dort hat der Ewige Geschichte gemacht, seine Geschichte. Die unüberbrückbare Kluft von Gott und Welt, Himmel und Hölle ist überbrückt. Keine Hinrichtung wie jede andere. Gott selbst kommt in die Hölle. Gott nimmt die Gottverlassenheit auf sich.
Seitdem soll es keinen „heiligen Ort“ auf der Welt und in unserem Leben mehr geben, der fein säuberlich abgetrennt ist von den Höllen in derselben Welt. Wer Gott ausschließlich an heiligen Orten, in heiligen Handlungen, heiligen Schriften und heiliger Atmosphäre sucht, wird ein Zerrbild finden. Sondern: Als Gott-Sucher sollen Sie durch den zerrissenen Vorhang hindurch auf Golgatha blicken!
Und: Weil Gott in die Gottverlassenheit gekommen ist, gibt es keine Hölle mehr, in der nicht auch Gott wäre. Wohl dem, der auch durch den Vorhang der eigenen Verzweiflung hindurch auf Golgatha blickt. Da ist Gott, nicht bloß auf dem Thron im Allerheiligsten.
Der Riss im Vorhang, er blieb der Menge verborgen, und er tut es bis heute. Der Vorhang wird wohl auch schnell geflickt worden sein. Oder hurtig ersetzt durch strapazierfähigeres Material. So sind die Menschen. Nur: Der Vorhang, den Gott durch den Tod Jesu zerrissen hat, ist nicht zu flicken, ist nicht zu ersetzen. Auch wenn wir es nicht mitbekommen oder nicht wahrhaben wollen. Er ist und bleibt zerrissen.
Ich meine: Es ist gut, sich auf diese neue Wirklichkeit einzustellen – gegen die Vorhänge!
- Runter mit dem Vorhang vor der Hölle anderer Menschen und der Kreatur! Wir dürfen nicht „Insel der Glückseligen“ spielen, als gäbe es das nicht. Gott bliebe uns verborgen.
- Runter mit dem Vorhang der eigenen Hölle (oder ihrer Vorhöfe)! Gott ist da! Keine Hölle und kein Tod mehr ohne ihn! Warum mir die Hände vor’s Gesicht halten, wenn der Gekreuzigte mich ansieht?
Der Vorhang ist zerrissen. Also lassen Sie uns so leben und so sterben und so auferstehen!
Gebet (von Dietrich Bonhoeffer):
gefangen und verlassen wie ich.
Du kennst alle Not der Menschen,
du bleibst bei mir, wenn kein Mensch mir beisteht,
du vergißt mich nicht und suchst mich.
Amen.
Dirk Klute