Ps. 98; Ich lobe meinen Gott, der aus der Tiefe mich holt
Ich singe nicht besonders gut, aber dafür mit Lust und sehr viel. Gern mit anderen, sonst auch allein. Manchmal an Orten, wo andere vielleicht die Nase rümpfen und mich etwas peinlich finden, z.B. auf dem Fahrrad oder in gut hallenden Treppenhäusern und Altbau-Fluren. Singen befreit wirklich! Ganz unverklemmt und ohne Rücksicht auf Kritik zu singen, das ist Freiheit. Und: – Singen ist gesund …
Neu ist eine Entdeckung der Universität Frankfurt: Der Speichel von ChorsängerInnen wurde vor und nach einer Chorprobe untersucht, und man machte die überraschende Entdeckung, dass sich das Immunglobulin A (zuständig für die Stärkung des Immunsystems) nach dem Singen deutlich erhöht und das Stresshormon Cortisol deutlich verringert hatte. (http://www.bad-vilbel-online.de/index.cfm?event=page.content&pid=35&id=155)
Merkwürdig: Wenn ich vor einer Stations-Andacht die Gitarre raushole und Liederbücher verteile, höre ich mit trauriger Regelmäßigkeit: „Ich kann aber gar nicht singen!“ oder „Wenn ich anfange zu singen, dann laufen alle weg!“
Singen befreit: Ich sehe meist bei diesen Leuten, wie sich irgendwann trotzdem die Lippen ein bisschen bewegen, und irgendwann sind auch Stimmen zu hören. – Prima! Ihre Stimme, das ist ja Ihr Ureigenstes. Wenn jemand sich traut, sich selbst zu hören, und dann auch, sich hören zu lassen, der eigenen Stimme Gewicht zu geben, dann ist das super! Und wenn man dann noch entdeckt: „Keiner rennt raus wegen meiner Stimme und meiner Fehler, die anderen sind auch nicht perfekt, und es macht einfach Spaß, so wie es ist!“ – ja, dann kann das eine befreiende Erfahrung für’s Leben sein. Nicht nur für’s Singen, für’s Leben!
Unsere heutige Singe-Geschichte fängt nicht mit der Befreiung an, sondern mit Sklaverei: Da ist in der Hafenstadt Philippi eine Sklavin. Sie ist in doppelter Weise unfrei: Erstens wird sie von ihren Besitzern besessen, zweitens von einem Dämon. Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Besitzern und dem Dämon: Weil die Frau als Besessene eine erfolgreiche Wahrsagerin ist, verdienen ihre Besitzer ordentlich an ihr.
Nun kommen Paulus und Silas in die Stadt. Sie sind „im Namen des Herrn unterwegs“: Sie wollen den Leuten von Jesus erzählen und sie für den christlichen Glauben gewinnen. Paulus und Silas treffen nun auf diese Sklavin. Das hat Folgen: Sie wird befreit von ihrem Dämon. Äußerlich noch Sklavin, aber wenigstens innen drin frei!
Nun können die Leute ja glauben, was sie wollen – Hauptsache, die Kasse stimmt. Aber für die Besitzer der Sklavin stimmt die Kasse nun nicht mehr – jetzt, wo sie den Dämon los ist. Deswegen lassen sie ihre Verbindungen spielen: Paulus und Silas wandern in den Knast …
Nachdem man ihnen viele Schläge verabreicht hatte, brachte man sie ins Gefängnis. Dem Gefängniswärter wurde eingeschärft, sie sicher zu verwahren. Er sperrte sie darauf in die hinterste Zelle und schloss ihre Füße in den Block.
Das finsterste Verließ. Keine Chance auf Flucht. Schmerzen. Die Zukunft liegt auch im Dunkeln. Manch einer würde in verzweifeltes Schweigen fallen. Andere nicht. Die erheben ihre Stimme. Die singen. Denken Sie an die Spirituals der Sklaven in Nordamerika – voller Glauben, Hoffnung, Freiheit. Oder an die „Moorsoldaten“ aus dem KZ Börgermoor II im Emsland, bis heute ein Hit: „… doch für uns gibt es kein Klagen, // ewig kann’s nicht Winter sein. // Einmal werden froh wir sagen: // Heimat, du bist wieder mein …!“ Manche Lieder in den Ghettos Osteuropas aus der Nazi-Zeit haben eine geradezu atemberaubende Dichte und Kraft. – So auch in unsrer Geschichte:
Um Mitternacht beteten Paulus und Silas und priesen Gott in Lobgesängen. Die anderen Gefangenen hörten zu.
Das ist Freiheit pur. Jedenfalls maximale innere Freiheit unter den Bedingungen maximaler äußerer Unfreiheit. Mir ist dazu Paul Schneider eingefallen, der Pastor und Häftling im KZ Buchenwald. Ich weiß nicht, ob er auch gesungen hat. Aber er hat jedenfalls seinen Mitgefangenen immer wieder seine Überzeugungen zugerufen, und er hat sich davon auch durch Prügel und grausame Folter nicht dauerhaft abbringen lassen. Genau genommen, hat nicht einmal seine Ermordung seine Botschaft gebremst. – Ganz wie Jesus es gesagt hat: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten und danach nichts mehr tun können.“ (Lukas 12,4)
Fragt sich nur, warum Paulus und Silas in ihrer Lage ausgerechnet Lob-Lieder nehmen und nicht Klage-Lieder. Ich hätte wohl die Klagelieder gewählt und Gott die ganze Not hingehalten, hingeschleudert. Bei Paulus und Silas scheint mir: Sie haben Gott nicht wegen ihrer Lage gelobt, sondern trotz ihrer Lage. Gerade in diesem „Trotzdem“ und in diesem „Trotz“ steckt Freiheit. Wohl auch das Leid-erprobte Vertrauen: Gott steht am Ende jeder Geschichte! Auch am Ende jeder schlimmen, fürchterlichen Geschichte. Und zwar als Sieger.
„Lobgesänge“, das klingt nicht nach „ad hoc komponiert“ oder nach „Steggreif-Gedicht“. Gut zu wissen: Wenn mir die Worte fehlen, dann kann ich mir welche leihen. Zum Loben wie zum Klagen. Allerdings nur – und jetzt kommt der erhobene Zeigefinger -, wenn ich welche kenne. Oder wenn ich weiß, wo ich welche finde. Haben Sie ein paar gute Gedichte im Regal? Oder ein Liederbuch mit mehr als nur „netten“ Liedern? Oder eine Bibel, von der Sie wissen, wo Sie sie im Ernstfall aufschlagen müssten? Oder kennen Sie wenigstens ein paar Leute, die sowas haben und sowas wissen???
Da gab es plötzlich ein gewaltiges Erdbeben. Die Mauern des Gefängnisses schwankten, alle Türen sprangen auf und die Ketten fielen von den Gefangenen ab. (aus: Apostelgeschichte 16)
Tatsache, das gibt es: Dass äußere Zwänge platzen wie ein Korsett, dass die Mauer im Gedanken-Gefängnis einstürzt, dass Ihre Empfindungen von der Kette gelassen werden, dass alles Festgefügte erdbebenartig erschüttert ist und alles in Ihnen auf Ausbruch und Aufbruch gestimmt ist.
Ich unterschlage Ihnen hier die Fortsetzung der Geschichte: Wie nämlich ein zutiefst bestürzter, zeitweise akut suizidaler Gefängnisdirektor zu einer ganz neuen Lebensmelodie findet …
Sie meinen jetzt, dass alle Gefängnis-Mauern einstürzen, wenn Sie nur singen und Gott loben? Dann haben sie was falsch verstanden. Und Sie wissen es aus Ihrem Leben auch besser: Manche Mauern bleiben stehen …Richtig verstanden ist aus meiner Sicht: Gott laut zu loben, das kann Sie womöglich AUS Ihrem Gefängnis befreien, aber vor allem kann es Sie sehr wahrscheinlich IN Ihrem Gefängnis befreien. Darum: Wie hoch auch immer die Mauern sind, die Sie umgeben, die Sie erdrücken: Sie können Ihr Lied, Ihr Gebet über die Mauer werfen als einen Anker. Direkt zu Gott.
Übrigens: Als ein inhaftierter Bekannter von mir vor kurzem von einem in ein anderes Gefängnis verlegt wurde, da hat er mir geschrieben, dass er vor allem das Singen im Chor vermissen würde. Na, vielleicht findet er in der neuen JVA ja auch ein paar Sänger. Oder er traut es sich allein.
Und zu Ihnen: Wenn Sie sich durch diese Geschichte anregen lassen, heute noch ein Lied zu singen oder mit Ihrer Stimme ein Gebet zu sprechen (also nicht nur „im Herzen“), würden Sie mir das kurz schreiben? Danke!
Gebet (ein brasilianisches Lied; deutsch: Fritz Baltruweit, Barbara Hustedt):
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben. // Den Rhythmus, den Schwung hast du mir gegeben //
von deiner Geschichte, in die du uns mitnimmst, // du Hüter des Lebens. Dir sing ich mein Lied.
Ich sing dir mein Lied, in Ihm klingt mein Leben. // Die Tonart, den Takt hast du mir gegeben, // von Nähe, die heil macht – wir können dich finden, // du Wunder des Lebens. Dir sing ich mein Lied.
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben. // Die Höhen, die Tiefen hast du mir gegeben. // Du hältst uns zusammen trotz Streit und Verletzung, // du Freundin des Lebens. Dir sing ich mein Lied.
Ich sing dir mein Lied, in ihm klingt mein Leben. // Die Töne den Klang hast du mir gegeben // von Zeichen der Hoffnung auf steinigen Wegen, // du Zukunft des Lebens. Dir sing ich mein Lied.
Dirk Klute