Heilandsruf
Wahrscheinlich wussten Sie’s noch gar nicht: Die Protestanten haben eine etwas andere Bibel als die Katholiken. Das kommt so: Ab ungefähr 250 v. Chr. hat man angefangen, das hebräische Alte Testament (AT) in die Weltsprache Griechisch zu übersetzen. Dann kamen weitere griechische Texte hinzu, so dass das griechische AT mehr Bücher hat als das hebräische. Das „protestantische“ AT ist das hebräische, das „katholische“ orientiert sich am griechischen, ist also etwas dicker.
Heute ein Text aus dem „katholischen“ AT, genau: aus dem Buch „Weisheit Salomos“ (dort Kapitel 2). Die Worte sind dem weisen König Salomo in den Mund gelegt, sie wurden wohl im ersten Jahrhundert vor Christus von einem jüdischen Weisheitslehrer in Ägypten verfasst …
Frage: Was ist das Leben? Was ist der Mensch? Unser Weisheitslehrer schreibt, was Leute, die aus seiner Sicht „verkehrt denken“, dazu sagen würden. Ich finde: Diese Leute haben Ähnlichkeiten mit jenen heutigen Menschen, die ihr Weltbild komplett aus der Naturwissenschaften zu beziehen meinen und sagen, das sei schon alles. Letztlich sei alles „nur“ Materie …
Diese Leute, die so verkehrt denken, sagen untereinander:
»Kurz und voller Leid ist unser Leben, und wenn ein Mensch dahin soll, so gibt es keine Rettung. Auch weiß man von keinem, der aus dem Totenreich befreit. Denn nur zufällig sind wir geworden, und nachher werden wir sein, als wären wir nie gewesen. Denn der Atem in unsrer Nase ist nur Rauch und unser Denken nur ein Funke, der aus dem Pochen unsres Herzens entsteht. Wenn er verloschen ist, so geht der Leib dahin wie Asche, und der Geist zerflattert wie Luft. Unser Name wird mit der Zeit vergessen, und niemand denkt mehr an unser Wirken. Unser Leben fährt dahin, als wäre nur eine Wolke dagewesen, und zergeht wie Nebel, der von den Strahlen der Sonne verjagt und von ihrer Hitze zu Boden gedrückt wird. Unsre Zeit geht vorbei wie ein Schatten, und wenn es mit uns zu Ende ist, gibt es keine Wiederkehr; denn es steht unverbrüchlich fest, dass niemand wiederkommt …
Mein Leben – ein Zufallsprodukt; der Atem – ein Rauch; das Denken – ein Funke aus dem Pochen des Herzens. Heute würden man sagen: Alles nichts als Neurophysiologie.
Wer so denkt, hat auch eine sehr „moderne“ Antwort auf die Frage nach dem Tod: „Nachher werden wir sein, als wären wir nie gewesen“, kurz: Mit dem Tod ist alles aus. Asche. Und auch mein Name und mein Wirken werden vergessen. Nichts bleibt, keine Wiederkehr.
Ich finde, so eine Sicht auf das Leben gibt reichlich Stoff, um in Depression, Lethargie, Fatalismus zu verfallen. Aber unser Weisheitslehrer sieht bei denen, die er für verkehrte Denker hält, eine andere Konsequenz: – Ebenfalls sehr modern. Und gar nicht schlecht: Lebensfreude!
Kommt nun und lasst uns die Güter genießen, so lange sie da sind, und die Welt geschwind noch auskosten, solange wir jung sind. Wir wollen mit bestem Wein uns füllen und uns salben, und keine Frühlingsblume soll uns entgehen. Lasst uns Kränze tragen von Rosenknospen, ehe sie welk werden. Keine Wiese bleibe von unserm übermütigen Treiben verschont, damit man überall merkt, wie ausgelassen wir gewesen sind. Denn das ist unser Teil und das ist unser Los.
Klingt gut, oder? Den schönen Dingen des Lebens zugetan sein, statt sauertöpfischen Verzicht zu üben! Ja, ist auch schön. Man muss schon genauer hinsehen, um zu erkennen, wo der Haken ist:
- „Die Güter genießen, so lange sie da sind“ – ich muss nichts übrig lassen. Nachhaltigkeit? Ach wo! Nach mir die Sintflut!
- „Mit bestem Wein uns füllen“ – es muss der beste sein, der gute Wein reicht nicht. Und: „uns füllen“. Sternhagelvoll. Koma-Saufen. Der untaugliche Versuch, „Genuss“ mit „Maßlosigkeit“ zu verbinden.
- „Keine Frühlingsblume soll uns entgehen“. Es reicht nicht, ein paar zu sehen, zu betrachten, zu pflücken. Es müssen alle sein! Wehe, wenn ich mit meinem so begrenzten Leben auch nur eine Genuss-Möglichkeit verpasse!
- „Kränze von Rosenknospen, ehe sie welk sind.“ Das Problem ist: Wenn Knospen zu Kränzen geflochten werden, dann werden sie welk, ehe sie überhaupt zur Blüte kommen. Eine Lebens-Gier, die die volle Schönheit verhindert und tötet.
- „Keine Wiese bleibt … verschont“, denn es dreht sich ja alles um das eigene Vergnügen, die Wiese mit ihrer eigenen Lebensfülle hat kein eigenes Lebensrecht, sie ist nur für mich da.
- „Damit man überall merkt, wie ausgelassen wir sind“. Es ist nicht mehr die Freude an sich, sondern es geht um Selbst-Darstellung: „Was denken die anderen? Nehmen die mir mein erfolgreiches Leben ab?“
Also: Nicht Lebensfreude, sondern rücksichtslose Egomanie. Geboren aus der Angst, in diesem bisschen Menschenleben irgendetwas zu verpassen oder auszulassen. Das alles mit dem Recht des Stärkeren. Da gibt es auch kein Halt vor dem Lebensrecht der Mit-Menschen:
Lasst uns den armen Gerechten unterdrücken und keine Witwe verschonen; wir wollen uns nicht scheuen vor dem altersgrauen Haar des Greises. Alles, was wir tun, das soll Recht sein; denn es zeigt sich, dass Schwäche nichts ausrichtet.
Wer da ein anderes Lebens-Verständnis, einen anderen Glauben, wer für Fairness ist und einer sozialen Gesellschaft will, stellt eine leibhaftige Provokation dar – und bietet sich als Opfer förmlich an:
So lasst uns dem Gerechten auflauern. Denn er ist uns lästig und widersetzt sich unserm Tun und schilt uns, weil wir gegen das Gesetz sündigen, und hält uns vor, dass wir gegen die Zucht verstoßen. Er behauptet, Erkenntnis Gottes zu haben, und rühmt sich, Gottes Kind zu sein. Er wird uns zum Vorwurf bei allem, was wir denken; er ist uns unleidlich, wenn er sich nur sehen lässt. Denn sein Leben unterscheidet sich von dem der andern, und ganz anders sind seine Wege. Als falsche Münze gelten wir ihm (…)
Kurz gesagt, geht die Gedankenkette so: Ein glaubensloser, knallharter Materialismus zwingt die Leute, maßlos und ohne Rücksicht auf Verluste ihre Lebensspanne „auszukosten“. Sie bringen sich damit um das, was wahres Leben sein sollte, sie schaden ihren Mitmenschen und der Schöpfung, sie bekämpfen alle, die das Wohl des Ganzen im Blick haben.
Es wäre natürlich unfair, nun alle Atheisten in diese Schublade zu stecken. Und auch ein bisschen arrogant, sich als Christ/in (oder auch anders glaubend) über „die anderen“ zu entrüsten und sich so automatisch auf der Seite der Guten wiederzufinden.
Mir kommt es eher darauf an, mich als Christ dafür zu sensibilisieren: Wo lebe ich, allen Glaubens-Überzeugungen zum Trotz, einen praktischen Atheismus? Wo lebe ich so, als wäre Christus nicht auferstanden, als wäre nach meinen vielleicht 25.000 bis 30.000 Lebens-Tagen der haltlose Fall ins Nichts angesagt? Wo lebe ich maßlos und rücksichtslos? Wo werde ich getrieben vom den Drang, ja nichts zu verpassen, nichts auszulassen? Gibt es auch bei mir immer wieder diese tiefe Verzweiflung, weil ich gute Gelegenheiten versäumt, wertvolle Zeit verstreichen lassen, die Weichen falsch gestellt habe? Hadere ich mit mir, weil ich früher etwas gesagt oder getan habe mit ungünstigen Folgen, und ich kann es nicht wieder gut machen?
Was mich betrifft: Das ist mir alles nicht so ganz fremd. Und Ihnen? Wohl auch nicht! Wir können mit unserem praktischen Atheismus ganz schön gnadenlos, streng, unbarmherzig sein. – Zu uns selbst! Zu anderen auch, aber davon rede ich hier jetzt gar nicht, denn das haben Sie eben in der „Weisheit Salomos“ ja schon gelesen.
Ein Anlass, den Geist des auferstandenen Christus neu in mein Leben hinein zu bitten. Damit dieser Geist mich beseelt. Damit Glaube keine Nur-Kopf-Angelegenheit bleibt, sondern mein Herz erfüllt, mir meine Gnadenlosigkeit und diesen Druck nimmt und mir verhilft – zu Lebensfreude, aber unverkrampfter, entspannter, heiterer Lebensfreude. Und mich versöhnt mit dem, was war.
Gebet (aus einem alten Lied):
In dir ist Freude in allem Leide, o du süßer Jesu Christ!
Durch dich wir haben himmlische Gaben, du der wahre Heiland bist.
Hilfest von Schanden, rettest von Banden.
Wer dir vertrauet, hat wohl gebauet, wird ewig bleiben. Halleluja!
Zu deiner Güte steht unser G’müte,
an dir wir kleben im Tod und Leben. Nichts kann uns scheiden. Halleluja.