Vorlesen (Andacht für Juli)

„Herr, dein Wort ist meines Fußes Leuchte. Und aus Licht auf meinem Wege!“

Vorlesen – damit verbinde ich Schönes: die Gute-Nacht-Geschichte. Ich habe da ganz frühe Erinnerungen: Meine beiden älteren Brüder und ich zusammen mit meinen Eltern am Küchentisch, und dann kommt die dicke Kinderbibel. Oder unsere Ausgabe von Grimms Märchen, die habe ich auch noch gut vor Augen.

Viel später: Ich selbst in der Papa-Rolle. Die Gute-Nacht-Geschichten im Bett mit 1-2 Kindern drumherum – für mich ebenfalls intensiv. An der Grenze zwischen Tag und Nacht, Wachen und Schlafen. Vielleicht noch wichtiger als die konkrete Geschichte: Beieinander zu sein, etwas miteinander zu tun, einander zu spüren. Verbundenheit, Geborgenheit. Eine Zeit miteinander und füreinander, wie sie mittem am Tag zu oft zu kurz kommt.

Wo haben Sie’s sonst noch mit dem Vorlesen zu tun? Bei den Nachrichten im Fernsehen oder Radio vielleicht. Nicht immer, denn manchmal werden die mehr moderiert als vorgelesen, manchmal sogar mit Gedudel im Hintergrund. Klassisch vorgelesen, das wirkt auf mich seriöser. Vielleicht nutzen Sie auch die Hörbücher. Oder Vorlese-Sendungen im Radio.
Und Vorlesen life? Ein richtiger Mensch im selben Raum, der vorliest? Falls Sie studieren oder studiert haben, kommen Sie mir bitte nicht mit „Vorlesungen“! Denn da wird meist gerade NICHT vorgelesen. Ganz früher mal, bevor es den Buchdruck gab.

Dann gibt es noch „Autorenlesungen“: Schriftstellerin X liest im Buchladen Y aus ihrem neuesten Gedichtband Z vor. Warum gehen da Leute hin, wenn sie dieselben Gedichte auch auf dem heimischen Sofa lesen können? Antwort: Weil eine „Lesung“ etwas ganz anderes ist, ein gemeinschaftliches Ritual. – Sie sind mit mehr Sinnen beteiligt und Sie erleben GEMEINSAM etwas. Fast wie die Gute-Nacht-Geschichte, die auch dann noch ihren Sinn hat, wenn das Kind schon selbst lesen kann.

Und weiter? Vorlesen nicht nur als Sonderveranstaltung, sondern regelmäßig? Na? Ja klar: In der Kirche! Oder in den Stationsandachten! Wenn Sie es mit Ihrer Orts-Kirche NICHT so gut getroffen haben, denken Sie vielleicht an „abgelesene“ Predigten und „abgelesene“ Gebete, also schlecht betont, heruntergeleiert, un-angeeignet, wie eine lästige Pflicht.
Aber auch wenn Sie es mit richtig guten Gottesdiensten zu tun haben, erleben Sie „Lesungen“, und die meine ich hier: Jemand geht vorn ans Lesepult und liest einen Text aus der Bibel vor. Vielleicht eine Geschichte, die schon jeder kennt. Ganz schlicht, in einer vertrauten Übersetzung, ohne Animation, ohne Moderation. Vor-Gelesen, nicht geleiert. Vielleicht stehen die Leute dazu auf. Da geht es jetzt nicht um Neuigkeiten, auch nicht ausschließlich um gute Unterhaltung. Sondern um Be-Sinnung. Innere Sammlung. Um Ehr-Erbietung gegenüber alten Worten, die manch einem in diesem Moment zu Gottes Wort werden. Und um eine gemeinsame Haltung, ein gemeinsames Fundament, auch wenn jeder und jede vielleicht ganz andere Empfindungen und Gedanken zu dem vorgelesenen Text hat.

Nach dieser Vorrede über das Vor-Lesen sollten Sie es sich nicht nehmen lassen, die folgenden Bibelworte über das Vorlesen LAUT zu lesen, ihn sich selbst vorzulesen. Vielleicht gibt es ja sogar weitere Zuhörer. Und wenn Sie Gefallen daran finden, gern zweimal!

Mose hatte das ganze Gesetz aufgeschrieben und überreichte es nun den führenden Männern Israels und den Priestern (…). Er sagte zu ihnen: "Lest dieses Gesetz alle sieben Jahre (…) den Israeliten vor, wenn sie sich am Laubhüttenfest beim Heiligtum des Herrn versammeln. Ruft dann das ganze Volk zusammen, Männer, Frauen und Kinder und auch die Ausländer, die bei euch leben. Sie alle sollen das Gesetz hören. Sie sollen lernen, was darin steht, damit sie Ehrfurcht vor dem Herrn, eurem Gott, haben und alle Gebote genau befolgen. Auch die Kinder, die das Gesetz noch nicht kennen, sollen genau zuhören, damit sie stets dem Herrn, eurem Gott, in Ehrfurcht begegnen. Die Gebote sollen euer Leben in dem Land jenseits des Jordan bestimmen, das ihr nun in Besitz nehmt."  (5. Mose 31, 9-13)

Mose richtet also eine öffentliche Vorlese-Stunde ein.

  • WANN soll gelesen werden? Mose plaziert das Lesen nicht zwischen Tür und Angel, sondern an einem der höchsten Glaubensfeste: dem Laubhüttenfest. Dieses Fest gibt es jedes Jahr, aber das feierliche Vorlesen soll es nur alle sieben Jahre geben, im „Sabbat-Jahr“.
  • WO? Das „Heiligtum des Herrn“ (wörtlich: der „Ort, den er erwählen wird“) ist für die Leser/innen ein paar Jahrhunderte später fraglos der Tempel in Jerusalem. Es gibt keine Live-Übertragung, die Leute müssen sich schon zu den großen Festen von überall her auf die Socken machen, es gibt noch richtige Begegnungen, ohne Skype und Smartphone.
  • WER hört zu? Bei der Gute-Nacht-Geschichte sind es die Kinder, bei der Autorenlesung ein Kreis Kultur-Interessierter, beim Hörbuch sind es Sie allein. Anders bei Moses Vorlese-Event: „das ganze Volk (…), Männer, Frauen und Kinder und auch die Ausländer, die bei euch leben“. Und zum zweiten Mal: „auch die Kinder“. Ausdrücklich also diejenigen, die noch in die Gemeinschaft hineinwachsen müssen (die Kinder) und die, die von außen in die Gemeinschaft kommen und sich ebenfalls erstmal annähern, hineinwachsen müssen: „die Ausländer, die bei euch leben“.
  • WAS wird gelesen? In der obigen deutschen Fassung „Hoffnung für alle“ klingt es ein bisschen nach langweiligen juristischen Texten. Im hebräischen Original steht da aber „Torah“, also „Weisung“. In der Einzahl. Heutzutage meint dieses Wort die Fünf Bücher Mose, damals das fünfte Buch Mose oder einen Teil davon, wo auch unser Text steht.
  • WOZU das Ganze? Antwort: „hören“, „lernen“, „befolgen“, „genau zuhören“, „euer Leben bestimmen“. Und zweimal: „Ehrfurcht“!

Gerade dieses „Wozu?“ betrachte ich als Einladung, dass Sie auf sich gucken:

  • „Hören“ / „genau zuhören“: Wie gut höre ich hin? Und könnte es sein, dass meine Mitmenschen mich für einen schlechteren Zuhörer halten als ich mich selbst? Und dass sie dafür gute, vielleicht die besseren Gründe haben?
  • „Lernen“: Wie lern-fähig bin ich? Mehr noch: wie lern-WILLIG? Oder auf Sie bezogen: Sind Sie nach ihrem letzten runden Geburtsag noch genauso bereit wie in dem Jahrzehnt zuvor, neue Einsichten an sich heranzulassen? Umzudenken? Sich etwas sagen zu lassen?
  • „Befolgen“/ „das Leben bestimmen lassen“: Wäre es möglich, dass Ihre neuen Einsichten – oder alte Einsichten, neu aufgenommen – sich nicht nur in Ihrem Kopf abspielen, sondern in Ihre Lebensgestaltung hinein schwappen? Hätten Sie ein aktuelles Beispiel?
  • „Ehrfurcht“: Wie steht es mit Ihrer Ehrfurcht zu Gott? Gibt’s die? Und wenn ja: Reine Kopfsache? Herzenssache? Lebenshaltung?

Was könnte „Vorlesen“ nicht alles bewirken …

Und in unserem Text noch mehr: Eine ganze Gesellschaft kommt zusammen. Sie hört, und sie versichert sich so ihrer Grundlagen, ihrer Regeln und ihres Gottes.

Das ist heute so nicht zu kopieren. Wenn der Bundespräsident vor dem Reichstag und auf allen Kanälen das Grundgesetz vorlesen würde, das wäre nicht dasselbe. Aber was SIE können: Dem Vorlesen Raum geben. Orte aufzusuchen, wo vorgelesen wird. Wenn Sie mit anderen zusammen leben oder Freunde und Bekannte haben: Mal einander was vorlesen – die Zeitung, ein Gedicht, eine Geschichte, … Und: Sich allein etwas vorlesen – wichtige Worte gern doppelt und dreifach. (Das schützt auch vor dem Einschlafen beim Lesen).

Es muss nicht das Fünfte Buch Mose sein. Es muss schon gar nicht immer etwas Frommes sein. Aber öfter mal Bibel, das wäre schon klasse. Für Einsteiger empfehle ich gern das Markus- oder das Lukas-Evangelium. Es könnte nämlich die Ehrfurcht stärken, es könnte die Lebenshaltung in eine gute Richtung verändern, es könnte Sie reifen lassen. Sie könnten sich beschenkt fühlen!

Gebet (Evangelisches Gesangbuch 198):

Herr, dein Wort, die edle Gabe, diesen Schatz erhalte mir; denn ich zieh es aller Habe und dem größten Reichtum für. Wenn dein Wort nicht mehr soll gelten, worauf soll der Glaube ruhn? Mir ist’s nicht um tausend Welten, aber um dein Wort zu tun.

Dirk Klute