Schatz im Acker und kostbare Perle
Ja, was zählt? Was früher zählte, kann heute unbedeutend sein, womöglich sterbenslangweilig. Das kennen Sie aus Ihrem Leben, wenn Sie beobachten, was Ihnen über die Jahre wieviel bedeutet hat: Wie war das, als Sie halb so alt waren wie heute? Nicht alles, was Sie damals interessiert hat, lockt Sie heute noch. Manches, was Sie heute wichtig finden, hat Sie damals nicht die Bohne interessiert. Was Ihnen damals Angst gemacht hat, war wahrscheinlich anderes als heute. Und die Leute, mit denen Sie damals zu tun hatten, sind nicht alle mehr dieselben wie heute.
Was zählt? In einem Buch der Bibel wird kapitelweise so viel gezählt, dass es davon seine Bezeichnung hat: „Numeri“. Nummern. Zahlen, die für heutige Leser/innen nicht sonderlich zählen, man überblättert das ganz gern.
Dieses Buch Numeri spielt in der Zeit, als die Israeliten auf dem Weg von der Sklaverei Ägyptens durch die Wüste in das verheißene Land waren. Aufgeschrieben wurden die Numeri-Texte aber einige Jahrhunderte später. Im Rückblick wird da aus einer Schar befreiter Sklaven eine riesige Truppe: 603.550 wehrfähige Männer, dazu Frauen und Kindern, die gut sortiert wie in einer militärischen Schlachtordnung durch die Wüste ziehen. Na ja.
Ich finde, es gehört zu den langweiligen Ecken der Bibel, wie in den ersten beiden Kapiteln des Buches Numeri die genauen Zahlen der wehrfähigen Männer, nach Stämmen aufgeschlüsselt, vorgetragen werden. Dazu lange Listen von Namen völlig unbekannter Leute, die bei den Zählungen geholfen haben. All das zählt für mich nicht mehr. – Kostprobe?
Die Söhne Rubens, des ersten Sohnes Israels, nach ihrer Abstammung und ihren Geschlechtern, ihren Sippen und Namen, Kopf für Kopf, alles, was männlich war, von zwanzig Jahren an und darüber, was wehrfähig war, so viele ihrer vom Stamm Ruben gezählt wurden, waren 46500. (Numeri 1, 20-21)
Das wiederholt sich wörtlich in den folgenden Versen für jeden Stamm, abgesehen vom Namen des Stammes und der Zahl. Es war für die Schreiber offenbar ausgesprochen wichtig, wie es um die Wehrfähigkeit bestellt war und welcher Stamm dafür welchen Beitrag leistete. Das zählte.
Zahlen. Heutzutage hat sich das etwas verschoben. Die Zahlen, die heute etwas über die Stärke einer Gesellschaft, über Sicherheit und Stabilität aussagen sollen, das sind Bruttosozialprodukt und Bruttoinlandsprodukt, Wechselkurse, Aktien-Indizes, der Stand der Staatsschulden, Euro-Rettungsschirme. Die Bewertungen der Rating-Agenturen sind Buchstaben, nicht Zahlen. Die Anzahl der Bundeswehrsoldaten dagegen, die zu Zeiten des Kalten Krieges fast jeder wusste, die kennt heute kaum jemand mehr – ich jedenfalls nicht.
Aber hoppla – da gibt, jetzt wieder bei den Israeliten – eine Ausnahme: Der Stamm Levi …
Und der HERR redete mit Mose und sprach: Den Stamm Levi sollst du nicht zählen noch seine Summe aufnehmen unter die Israeliten, sondern du sollst sie zum Dienst bestellen an der Wohnung des Gesetzes, an all ihrem Gerät und allem, was dazugehört. Sie sollen die Wohnung tragen und alle Geräte und sollen sie in ihre Obhut nehmen und um die Wohnung her sich lagern.
(Numeri 1, 49-50)
Aha! Die Leviten werden nicht gezählt. Was die Wehrfähigkeit angeht, die Stärke der Gesellschaft, da zählen sie nicht, sie fallen nicht ins Gewicht, sondern sie schlagen so richtig aus der Art. Statt Wehrfähigkeit haben sie sich um etwas ganz anderes zu kümmern: das „heilige Zelt“.
Es geht im Numeri-Buch ziemlich militaristisch weiter: Nun die Schlachtordnung: Es wird haarklein beschrieben, welcher Stamm unter welchen Fürsten in welcher Ecke vom Lager mit wie viel Leuten vertreten ist:
Nach Osten soll sich lagern das Banner des Lagers Juda mit seinen Heerscharen: sein Fürst Nachschon, der Sohn Amminadabs, und sein Heer, 74600 Mann. Neben ihm soll sich lagern der Stamm Issachar: sein Fürst Netanel, der Sohn Zuars … (aus Numeri 2)
Auch das geht lange so weiter. Aber schon wieder tanzen die Leviten aus der Reihe:
Aber die Leviten wurden unter den Israeliten nicht mitgezählt, wie der HERR es Mose geboten hatte.
Sie zählen nicht, die Leviten, und ihre Position in der "Schlachtordnung" auch nicht. Die Ausnahme von der Regel. Sie tanzen aus der Reihe. Und sind in der Mitte des Lagers, beim heiligen Zelt.
Ich stelle mir vor, wie die Vetreter der anderen Stämme gemeckert haben: "Was? Wir sollen hier für Sicherheit sorgen, für unser Auskommen unter schwierigen Lebensbedingungen? Wir leisten hier tagtäglich harte Arbeit und garantieren unser Überleben – und die Leviten kümmern sich ausschließlich um diesen religiösen Firlefanz, haben schöne Gewänder, zelebrieren irgendwelche Riten und Gebete, die für nichts und wieder nichts gut sind? Das schwächt uns doch nur im Kampf gegen die Wüste und die Feinde, die überall lauern könnten! Das Leben ist eben Kampf!"
Interessanterweise spielt sich diese Kritik der anderen Stämme nur in meiner Phantasie ab, in der Bibel steht meines Wissens davon nichts. So sehr von Spannungen und Auseinandersetzungen auf dem Weg durch die Wüste berichtet wird, vom Steit um den richtigen Weg und den richtigen Glauben – an keiner einzigen Stelle ist irgendwer der Meinung, dass der Glaube und seine öffentliche Gestaltung unnötiger Luxus ist – ein Luxus, der bitteschön für das wirtschaftliche oder militärische Überleben geopfert werden soll. Religion stand nicht zur Disposition. Im Gegenteil: Das "heilige Zelt" stand in der Mitte der Gesellschaft. Und auch wenn alle Stämme außer Levi so sehr um die Marsch- und Schlachtordnung kreisen – es waren letztlich Aufgaben "am Rande".
Mir scheint: Das ist heute anders. In der Mitte der Gesellschaft steht, was sich in Zahlen ausdrücken lässt. Allen anderen Zahlen voran: Geld-Beträge. Sie können sich eine beliebige seriöse Tageszeitung nehmen und überprüfen, in welchen Artikeln es Bezüge zum Geld gibt, dann wissen Sie, was ich meine. Das Geld in der Mitte. Und aus dem Zahlungs-Mittel wird unter der Hand der Lebens-Zweck.
Das zur Gesellschaft. Und bei Ihnen? Persönlich? Was steht in der Mitte? Worüber denken Sie meistens nach, worum bemühen Sie sich? Was macht Ihnen Sorge? Welche Menschen sind für Sie besonders wichtig – und warum?
Im Blick auf unseren Text heute lautet meine Empfehlung: Schauen Sie genau hin! Steht in der Mitte vor allem das, was für andere zählt? Wie Sie angeblich zu sein oder was Sie zu tun haben, damit Sie für andere zählen? Steht womöglich im Mittelpunkt, was sich in Zahlen fassen lässt? Einkommen? Lebensalter? Zahl der Freundinnen und Freunde? Arbeitszeit?
Wohlgemerkt: In unserem Text kommt sehr ausführlich vor, was für fast alle zählt. Und es wird haarklein aufgezählt, wer was beisteuert. Aber: Alles nur „am Rande“. Am Rande des Lagers. In der Mitte aber: die Stiftshütte. Gott. Und Menschen, die genau diese Mitte pflegen und dafür da sind. „Nutzlos“. Und unersetzlich.
Also: Pflegen Sie Ihr Augenmaß dafür, was mehr an den Rand gehört in Ihrem Leben. Und dass die Mitte die Mitte bleibt und immer wieder wird: Gott. Zwecklos. Und unersetzlich.
Gebet:
Gott, so oft von mir an den Rand geschoben! Ich danke Dir, dass ich im Mittelpunkt Deiner Liebe stehe! Und dass Du meine Freiheit willst! Amen.
Dirk Klute