Wer hat Recht? (Andacht für Juni)

2. Tim. 4

Sein Name ist Progamm: „Gott erbarmt sich!“ Das ungefähr bedeutet der Name jenes Propheten, der seinen Mitmenschen in schwierigen Zeiten sehr positive, Hoffnung machende Aussichten vor Augen und ins Herz malt: Hananja.

Wir befinden uns im Jahre 594 v.Chr. in Jerusalem. Die Großmacht der Region ist Babylon unter König Nebukadnezzar. Vor sieben Jahren hatte der König des kleinen Staates Juda den Babyloniern die Gefolgschaft aufgekündigt. Die Babylonier hatten sofort mobil gemacht, Juda besetzt und die Hauptstadt Jerusalem belagert. Es hätte nicht viel gefehlt, da hätten sie die Stadt zerstört. Gerade noch rechtzeitig stirbt der König von Juda, sein Nachfolger, er heißt Jojakin, macht sich schnell daran, die weiße Fahne zu hissen und aufzugeben. Der Aufstand hat seinen Preis: Jojakin wird zusammen mit Führungspersönlichkeiten und Fachkräften nach Babylon verschleppt, die kostbaren kultischen Geräte aus dem Tempel werden beschlagnahmt. Die Babylonier setzen einen neuen König von ihren Gnaden ein: Zidkija.

Nun sitzt den Einwohnern Jerusalems schon seit Jahren diese Niederlage in den Knochen: Der „eigentliche“ König und manche Verwandte fern in Babylon, der Tempel, in dem all die heiligen Kostbarkeiten fehlen. In diese Not hinein spricht nun der Prophet Hananja:

»So spricht der Gott Israels, der Herrscher der Welt: ›Ich zerbreche das Joch des Königs von Babylonien! Noch genau zwei Jahre, dann bringe ich alle heiligen Geräte des Tempels (…) an diesen Ort zurück. Auch König Jojachin (…) und alle anderen, die aus Juda nach Babylonien verschleppt worden sind, bringe ich zurück. Denn ich will das Joch des Königs von Babylonien zerbrechen.‹ (…)«

Hananja spricht seine Mutmach-Worte an der richtigen Stelle: im Tempel. Das ist das religiöse Zentrum, da sind genügend Leute, da kommt die Botschaft an. Ein anderer Prophet ist übrigens auch gerade zugegen, vielleicht kann der ja einstimmen, dann kommt es noch besser rüber. Hananja hat’s begriffen: Der Glaube soll den Leuten Hoffnung geben, Mut machen. Positives Denken!

Der andere Prophet heißt Jeremia. Er pflichtet bei:

Da antwortete der Prophet Jeremia dem Propheten Hananja vor den Priestern und dem ganzen Volk, das im Tempel versammelt war: »Amen! Ich wünschte, der Herr würde es tun! Er lasse deine Worte in Erfüllung gehen und bringe die Geräte des Tempels und alle Verschleppten aus Babylonien hierher zurück!

So weit, so schön. Aber eines passt nicht in dieses positive Denken: Jeremia trägt ein Ochsen-Joch auf dem Rücken. Das sieht eher nach einer großen Last aus, nicht nach „Alles wird bald wieder gut!“ Und: Jeremia ist auch noch nicht fertig. Jetzt kommt es nämlich dicke:

Aber jetzt höre, was ich dir und dem ganzen Volk zu sagen habe: Auch die Propheten, die lange vor mir und dir gelebt haben, sagten vielen Ländern und großen Reichen nichts als Krieg, Unglück und Pest voraus. Sagt aber ein Prophet Glück und Sieg voraus, so bleibt abzuwarten, ob sein Wort in Erfüllung geht. Erst daran erweist sich, dass er wirklich im Auftrag des Herrn gesprochen hat.«

So etwas hört keiner gern: Das versammelte Volk nicht, denn Jeremia zieht die gute Prophezeiung Hananjas in Zweifel. Und Hananja selbst nicht, denn Jeremia spricht ihm schlicht und ergreifend ab, dass er Gottes Wort weitersagt. Jeremia unterstellt Hananja damit: „Du bist ein falscher Prophet!“

Das kann Hananja nicht auf sich sitzen lassen. Diesmal findet er nicht nur deutliche Worte,
sondern auch eine eindrückliche und kraftvolle Geste:

Da nahm Hananja das Joch vom Nacken Jeremias und zerbrach es. Dann erklärte er vor allen Leuten: »So spricht der Herr: ›Ebenso nehme ich in zwei Jahren, genau auf den Tag, das Joch, das König Nebukadnezzar allen Völkern auferlegt hat, und zerbreche es.‹« Jeremia ging weg.

1:0 für Hananja, Jeremia verlässt geschlagen das Feld. Aber es gibt ein Rückspiel:

(…) Einige Zeit danach erging das Wort des Herrn an Jeremia, er sagte zu ihm: »Geh und richte Hananja aus: So spricht der Herr: ›Das Joch aus Holz hast du zerbrochen, aber dafür kommt jetzt ein Joch aus Eisen. Denn der Gott Israels (…) hat gesagt: Ein eisernes Joch lege ich auf den Nacken aller Völker. Sie müssen sich Nebukadnezzar, dem König von Babylonien, unterwerfen. (…).‹«
Weiter sagte Jeremia zu ihm: »Hör gut zu, Hananja! Der Herr hat dich nicht gesandt. Du hast das Volk dazu verführt, auf Lügen zu vertrauen. Deshalb sagt der Herr: ›Für dich ist kein Platz mehr auf der Erde. Noch in diesem Jahr wirst du sterben, denn du hast Auflehnung gegen den Herrn gepredigt.‹«
Und der Prophet Hananja starb im siebten Monat desselben Jahres.

Und wer hat nun gewonnen bei diesem Prophetenstreit? Keiner!

  • Hananja nicht. Obwohl ihm die Herzen zuflogen, konnte er es nicht lange genießen. Und der weitere Verlauf der Ereignisse hat ihn noch nachträglich als Schönredner und Lügner entlarft.
  • Jeremia nicht, denn obwohl er Recht behielt: Er war für Jahrzehnte der unbequeme Mahner, der Außenseiter, der Verfolgte. Und er musste den prophezeiten Untergang selbst miterleben.
  • Das Volk nicht, denn es hat sich von Leuten wie Hananja einlullen lassen, statt der unbequemen Wahrheit Jeremias ins Auge zu sehen und sich zu fragen: „Wie können wir uns auf Jeremias unbequeme Botschaft einstellen und vielleicht das Schlimmste abwenden?“

Eine tragische Geschichte für alle, wenn man das Ende kennt.
Und wenn man das Ende NICHT kennt? Wenn Sie „zum Volk“ gehören und die Wahl haben zwischen Hananja und Jeremia? Zwischen „Alles wird gut!“ und „Es kommt noch schlim­mer!“? Wenn beide die höchste Autorität in Anspruch nehmen und sagen, dass sie im Auftrag Gottes sprechen?

Man kann bis hier einfach nicht mit Sicherheit sagen, wer Recht hat und wer lügt. Eines allerdings ist schon jetzt sicher: Eine Botschaft wird noch nicht automatisch dadurch „richtig“, dass der Botschafter sich auf Gott beruft, denn das tun ja beide.

Und nun? Ich meine: Es hilft schon mal, wenn ich selbstkritisch gegenüber meinem ersten eigenen Urteil bin. Vielleicht bin ich ja geborener Schwarzseher. Dann erscheinen mir erstmal nur Botschaften glaubwürdig, die ebenso finster sind. Oder ich halte die Welt nur mit rosarotem Hoffnungsblick aus. Dann fliegt mein Herz dem zu, der sagt: „Alles wird gut, alles wird besser!“ Wenn ich von mir weiß, wie ich da ticke, dann weiß ich auch, welche Botschaften ich schnell zur Seite schiebe – und kann dann gerade da sehr genau hinsehen.

Und noch eines: Gehirn anschalten! Sich von allen Seiten informieren! Sich nicht zu schnell zu sicher sein! Die eigenen Konsequenzen überlegen: „Was ist für mich zu tun, wenn Jeremia Recht hat? Was, wenn Hananja Recht hat?“
Vielleicht haben Sie sich etwas anderes von einer Andacht erwartet: mehr Zuspruch, Klarheit, Orientierung, mehr Gewissheit. Sie dürfen enttäuscht sein. Denn Sie bekommen VerUN­sich­erung. Nicht mal einem Gottesmann wie Hananja ist blind zu trauen. Und die Botschaft, die mich auf Anhieb anspricht, kann falsch sein. Ich muss mir die Mühe machen, mich zu informieren, selbst zu denken, mich auszutauschen …

Ich meine aber: Auch wenn so eine VerUNsicherung nicht schön ist – sie kann doch enorm hilfreich und heilsam sein, ein richtiges Gottesgeschenk: Ich kann daran wachsen, eigene Entscheidungen treffen, werde freier. Und bin ein bisschen besser geschützt gegen religiöse oder politische Rattenfänger oder solche, die auf nichts weiter aus sind als auf mein Geld oder sonstige Zuwendungen. Um es mit Paulus zu sagen: „Prüft alles! Und das Gute behaltet!“

Gebet:

Gott, sei Du ein festes Fundament unter meinen Füßen auf meinem Lebensweg. Bewahre mich davor, zu schnell zu sicher zu sein! Öffen mir Ohren und Herz für Dich! Amen.

Dirk Klute