Wer lacht? (Andacht für Mai)

1. Johannesbrief 3, 19-21

Ich lese gern und schon lange in der Bibel – und erlebe doch immer wieder Über­raschungen.  Sogar bei sehr bekannten Geschichten, nicht nur bei Texten, die mir eher unbekannt sind.

So eine Überraschung ist mir mit der Geschichte „Die Tochter des Jairus“ passiert: Jesus kommt mit dem Schiff über den See Genezareth. Bei seiner Ankunft versammeln sich viele Menschen. Einer drängelt sich nach vorn: der Synagogenvorsteher Jairus. Er bittet Jesus um Hilfe für seine totkranke Tochter. Jesus kommt sofort mit, wird aber unterwegs aufgehalten. Da erscheinen Leute aus dem Haus des Jairus und bringen die nieder­schmetternde Nachricht: Die Tochter ist tot, Jesus kann jetzt auch nicht mehr helfen. Aber Jesus macht dem Vater Mut, begleitet ihn nach Hause, schickt dort die vielen trauernden und klagenden Menschen weg, geht nur mit seinen vertrautesten drei Jüngern und den Eltern ins Zimmer, wo das Mädchen aufgebahrt ist. Jesus nimmt die Hand des Mädchens und spricht es an. Da schlägt das Mädchen die Augen auf. Es lebt und ist geheilt.

Hier ein Auszug aus der Geschichte, wie ich sie bisher kannte – aus dem Markus-Evangelium:

Und sie kamen in das Haus des Vorstehers, und [Jesus] sah das Getümmel und wie sehr sie weinten und heulten. Und er ging hinein und sprach zu ihnen: Was lärmt und weint ihr? Das Kind ist nicht gestorben, sondern es schläft. Und sie verlachten ihn. Er aber trieb sie alle hinaus und nahm mit sich den Vater des Kindes und die Mutter und die bei ihm waren [also die drei vorher genannten Jünger] und ging hinein, wo das Kind lag (…) (Markus 5, 38-40)

Jesus wird ausgelacht. Und er treibt die Leute hinaus.
So, und nun meine Überraschung – beim Lesen der Geschichte im Lukas-Evangelium:

Als er aber in das Haus kam, ließ er niemanden mit hineingehen als Petrus und Johannes und Jakobus und den Vater und die Mutter des Kindes. Sie weinten aber alle und klagten um sie. Er aber sprach: Weint nicht! Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft. Und sie verlachten ihn, denn sie wussten, dass sie gestorben war. (…) (Lukas 8, 51-53)

Quizfrage: Was ist in der Handlung anders? Antwort: Der Unterschied ist, wer lacht. Genauer: Wer Jesus auslacht. Bei Markus ist „das Getümmel“ im Haus, also die Nachbarn und die zusammen­gelaufenen Schaulustigen. Die schickt Jesus dann hinaus und geht nur mit denen ins Totenzimmer, denen es ernst, bitter-ernst ist: die drei Jünger und die Eltern.

Bei Lukas ist das anders: Die vielen Leute bleiben von vornherein draußen, nur die drei Jünger und die Eltern kommen mit ins Haus, und diese fünf Leute sind es nun, die ergriffen sind, weinen und klagen. Diese fünf Leute, die verwaisten Eltern und die Jünger, sind es auch, die Jesus auslachen, als er sagt: „Weint nicht! Sie ist nicht gestorben, sondern sie schläft!“

Wer lacht? Von Markus zu Lukas hat nicht nur die Zahl der Lachenden drastisch abgenommen, auch die Art des Lachens hat sich geändert: Wenn die Eltern im Angesicht ihres toten Kindes lachen, dann wird das ein Lachen voller Bitterkeit und Zynismus sein.
Und die Jünger? Sie waren vor nicht allzu langer Zeit so mutig gewesen, sich auf den Weg mit Jesus einzulassen und ihr „altes“ Leben aufzugeben. Ihr Lachen ist wohl alles andere als amüsiert, wenn ihr Meister auf einmal so abstruse Dinge erzählt, noch dazu in solch einer Situation. Die Eltern wie die Jünger, sie sind alle „viel zu dicht dran“, um sich bloß auf Jesu Kosten zu amüsieren. Dazu war die Sache für sie auf unterschiedliche Weise zu ernst.

Nun weiß man: Lukas hat, als er sein Evangelium zu Papyrus brachte, große Teile aus dem Markus-Evangelium übernommen und nochmal selbst formuliert. Also könnten wir sagen: Filmdokumente und direkte Augenzeugen gibt es nicht, es ist im Detail sowieso schwer zu sagen, was genau passiert ist. Wenigstens ist Markus dichter dran. Also halten wir uns an Markus und sein lachendes Getümmel – und vergessen Lukas mit den Eltern und den engsten Jüngern, die Jesus auslachen.
Aber ich möchte uns heute die Lukas-Fassung zumuten, weil darin eine tiefe Wahrheit steckt, und zwar unabhängig von den tatsächlichen Geschehnissen damals in dem Ort am See Geneza­reth. Und zwar aus folgendem Grund: Vielleicht sind Sie Christin oder Christ. Sie gehören zu Jesu Jünger­innen und Jüngern, Sie sind „dicht dran“, und das hat sich an manchen Stellen Ihres Lebensweges niedergeschlagen. Oder es hat Sie ein schlimmer Schmerz getroffen, eine große Not, und diese Not ist es, die Ihnen Jesus ins Blickfeld gerückt hat – so wie Jairus, als er Jesus aufsucht, so wie Frau Jairus, die an Jesu Seite zusammen mit den anderen ins Haus geht zur toten Tochter. Ob als Jünger oder Jüngerin, ob als Mensch in Not: Sie sind vielleicht ganz „dicht dran“ an Jesus.

Und nun erzählt uns Lukas die Geschichte so, dass Sie zu der unbequemen Wahrheit kommen: Es kann Ihnen passieren, dass Sie, ja, auch Sie, Jesus mit Zynismus und Bitterkeit begegnen und ihn auslachen. Ihre Glaubens-Geschichte ist davor nicht unbedingt ein Schutz, und der Ernst der Lage schon mal gar nicht. Dass es so weit kommen kann, um diese Möglichkeit zu wissen, das ist schon etwas wert. Sie müssen dann nämlich nicht mehr überrascht, erschrocken oder entsetzt von sich selbst sein, wenn es so weit ist.

Aber es gibt noch mehr zu lernen: Die zynischen, verbitterten Eltern rennen nun nicht angewidert raus. Nein, sie bleiben. Trotz ihres Lachens und der Tränen und der geballten Fäuste in der Tasche. Sie gehen sogar noch ein paar Schritte weiter mit Jesus. Bis es sich schließlich zum Guten wendet – zuerst für das tot geglaubte Mädchen, dann für die Eltern, dann für die Jünger. Nein, bis er, Jesus, es zum Guten, wendet …

Vom zynischen Lachen bis zu dem Moment, wo das Mädchen die Augen aufschlägt, geht alles ziemlich schnell. Die Eltern und die Jünger müssen diesen Zustand nicht lange aushalten. Dass es bei Ihnen und bei mir so flott geht, dafür gibt es keine Garantie. Leider. Manchmal kann es Jahre und Jahrzehnte dauern, und manch ein Jünger Jesu ist bis zum Ende seiner Erdentage nur selten so richtig erlöst und befreit, nicht jedem wendet sich zu Lebzeiten das Blatt so wirklich zum Guten. Umso wichtiger die Ermutigung: Nicht raus rennen! Sich nicht angewidert abwenden! Dabei bleiben!

Was aber aus meiner Sicht die wichtigste Botschaft für uns aus der Lukas-Fassung ist: Jesus rennt auch nicht raus! Er lässt es zu und hält es aus, ausgelacht zu werden. Sogar von denen, die ihm nahe stehen. Er lässt sich nicht davon abhalten, da zu bleiben und die Verbitterten, die Zyniker und Lacher weiter mitzunehmen und es gut zu machen. Für mich eine Geschichte, die von Jesu Treue handelt. Von seiner Treue auch zu Ihnen und mir. Auch wenn es bei uns gerade nicht zur Treue reicht und wenn der Glaube in Trümmern liegt.

Gebet (aus Psalm 63; gekürzt):

Gott, du bist mein Gott, den ich suche. Es dürstet meine Seele nach dir, mein ganzer Mensch verlangt nach dir aus trockenem, dürrem Land, wo kein Wasser ist. Denn deine Güte ist besser als Leben; meine Lippen preisen dich. So will ich dich loben mein Leben lang und meine Hände in deinem Namen aufheben. Wenn ich mich zu Bette lege, so denke ich an dich, wenn ich wach liege, sinne ich über dich nach. Denn du bist mein Helfer, und unter dem Schatten deiner Flügel frohlocke ich. Meine Seele hängt an dir; deine rechte Hand hält mich. Amen.

Dirk Klute