Zuwendung zum inneren Menschen (Andacht für Oktober)

Johannes 15, 4-5

Herzlichen Glückwunsch, Sie haben Geburtstag! Und was bekommen Sie? Post! Ein Brief! Sie erkennen schon an der Handschrift den alten Freund, der sich da mal wieder meldet.
Was mag drin stehen? „Herzlichen Glückwunsch!“, na klar. Vielleicht wünscht er Ihnen auch Gottes Segen zum neuen Lebensjahr. Und weil er Sie etwas näher kennt, noch ein paar konkretere Sachen: Dass es mit der Stelle klappt; dass der Beziehungs-Stress ein Ende nimmt – so oder so; dass es mit den gesundheitlichen Problemen nicht schlimmer, sondern besser wird; dass Sie endlich mal die Zeit finden, die Dinge zu tun und zu erleben, die Sie immer schon mal tun oder erleben wollten; ach ja, und ob Sie beide sich nicht mal wieder treffen sollten.

So, und nun machen Sie den Brief auf. Was Sie jetzt lesen, klingt anders als erwartet:

Liebe/r Soundso, ich liege hier auf den Knien und bete für Dich. Ich bitte Gott, dass sein Geist Dich erfüllt, damit er Deinen inneren Menschen stark macht. Christus soll in Deinem Herzen wohnen. Und ich bitte Gott, dass Du Wurzeln schlägst in Christi Liebe und dort Dein Fundament hast. Begreifen können wir ja seine Liebe sowieso nicht, aber ich bete, dass Du immer mehr davon erfasst und darin wirklich erfülltes Leben findest.
Heute, liebes Geburtstagskind, will ich Dir sagen: Die Ehre, Deine und die der ganzen Festgesellschaft, sie gebührt – Gott!

Hoppla, so ein frommer Geburtstagsbrief! Wie geht’s Ihnen damit? Es kann sein, dass so ein Brief Sie ziemlich befremdet, Sie ein bisschen abstößt, und Sie hätten sich lieber was Persönliches gewünscht. Also zur Seite damit!
Oder genau umgekehrt: Sie sind auch so drauf wie dieser Freund, das ist auch Ihre Sprache, solche Briefe haben Sie auch schon geschrieben. Dann wäre dieser Brief für Sie sicher ganz nett. Aber auch ein alter Hut, die Worte perlen an Ihnen ab wie die Regentropfen am Ostfriesennerz. Also ebenso: zur Seite damit!

Richtig gut wird dieser Brief für Sie nur, wenn Sie ihn mit Überraschung und Erstaunen lesen: „Whow, der betet ja für mich! Auf Knien!“; „Das ist aber mutig: Mein Freund erklärt mal eben meine aktuellen Lebens-Baustellen für äußerlich und macht sich Gedanken über meinen ‚inneren Menschen’!“; „Irgendwie suche ich immer noch meinen Platz im Leben – und der Spezi kommt mir mit dem ungewöhnlichen Vorschlag, meine Wurzeln zu schlagen in der Liebe Christi! Und wie würde das jetzt gehen?“

Überraschung und Erstaunen.  Das ist so, wie wenn Sie auf einem Aussichtsturm stehen, aber Sie schauen nur auf Ihren Spazierstock. Wenn Ihnen jetzt einer sagt: „Guck doch mal! Die Landschaft!“ – Dann würde ein „ungläubiger“ Spaziergänger sagen: „Gibt es für mich nicht! Interessiert mich auch nicht! Für mich zählt, was ich in der Hand habe: Mein Spazierstock ist mir jetzt wichtig!“ Ein „gläubiger“ Spaziergänger würde, ohne den Blick zu erheben, gähnen: „Ja, ja, weiß ich doch! Ist doch nichts Neues!“ Aber wer neugierig ist, der blickt auf und sieht sich tatsächlich um. Der lässt sich neu beeindrucken von der Aussicht, entdeckt vielleicht auch neue Details. Spazierstöcke können total wichtig sein im Leben. Aber so wichtig sie auch sind: Wer deswegen immer nur mit seinen Krücken beschäftigt ist, macht was verkehrt.

Der Geburtstagsbrief oben ist ein Plagiat: Ich habe ihn dem Brief des Paulus an die Epheser entlehnt. (Es gibt gute Gründe dafür, dass der Brief erst nach Paulus geschrieben wurde und ursprünglich auch nicht an die Epheser war, aber das muss uns hier nicht interessieren.)
Dieser Briefschreiber ist übrigens tatsächlich etwas merkwürdig und anstrengend, finde ich: Er bringt es fertig, über acht Verse hinweg nur zwei Sätze zu schreiben: Der erste ist 86 Wörter lang, der zweite 37. In Altgriechisch. In der Luther-Übersetzung sieht es nicht sehr viel besser aus. Deswegen hier die „Gute Nachricht“-Übersetzung: In 10 Sätze aufgeteilt, ist es lesbar. (Nur an zwei Stellen habe ich mich wörtlicher am Original orientiert.)

Deshalb knie ich vor Gott nieder und bete zu ihm. Er ist der Vater, der alle Wesen in der himmlischen und in der irdischen Welt beim Namen gerufen hat und am Leben erhält. Ich bitte ihn, dass er euch aus dem Reichtum seiner Herrlichkeit beschenkt und euch durch seinen Geist stark macht am inneren Menschen. Ich bitte ihn, dass Christus durch den Glauben in euren Herzen wohnt und ihr fest in seiner Liebe wurzelt und auf sie gegründet seid. Ich bitte ihn, dass ihr zusammen mit der ganzen Gemeinschaft der Glaubenden begreifen lernt, wie unermesslich reich euch Gott beschenkt.
Ihr sollt die Liebe erkennen, die Christus zu uns hat und die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr immer umfassender Anteil bekommen an der ganzen Fülle des Lebens mit Gott. Gott kann unendlich viel mehr an uns tun, als wir jemals von ihm erbitten oder uns ausdenken können. So mächtig ist die Kraft, mit der er in uns wirkt. Ihm gehört die Ehre in der Gemeinde und durch Jesus Christus in allen Generationen, für Zeit und Ewigkeit! Amen.  (Epheser 3, 14-21)

Zunächst mal: Das sind keine direkten Wünsche oder Ratschläge an die Empfänger. Sondern: Die Brief-Empfänger dürfen „Paulus“ über die Schulter gucken, was er so betet. Jemanden im Gebet vor Gott bringen, das ist etwas anderes, als ihn mit guten Rat-„Schlägen“, Wünschen, Forderungen einzudecken.

Was es mir besonders angetan hat: Die Änderung der Blickrichtung vom „äußeren“ zum „inneren“ Menschen! Vielleicht geht es Ihnen da wie mir: Als Architekt meines eigenen Lebens arbeite ich vorzugsweise auf Baustellen, wie sie in konventionellen Geburtstagswünschen oft vorkommen: Partnerschaft, Familie, Beruf, Gesundheit, Freunde, Hobbys. Wichtige Baustellen, gar keine Frage. Baustellen, auf denen ich manchmal ziemlich viel in der Hand habe und steuern kann, manchmal ein bisschen. Und manchmal überhaupt nichts. – Da bin ich dann erschreckend hilflos, ausgeliefert. Dazu vielleicht der gefühlte Druck, auf diesen Baustellen doch bitteschön halbwegs was aufzubauen oder wenigstens den Betrieb am laufen zu halten.

Da kommt nun „Paulus“ daher, und ich verstehe das jetzt für mich wirklich als Appell und als Ermutigungs-Fragen: „Hey, schau nicht nur auf Deinen Spazierstock! Es gibt Wichtigeres! Mal Kehrtwendung vom äußeren zum inneren Menschen! Lass Dich fragen: Wer ist Dein wahrer Vater? Und lässt Du Gott das auch sein? Aus welchem Geist heraus lebst Du? Was erfüllt Dich? Macht Dich das stark? Wer wohnt in Deinem Herzen? Wo hast Du Deine Wurzeln? Magst Du Deine Wurzeln in die Liebe Christi hinein strecken? Dass Du dort Halt hast? Und frisches Wasser für Dein Blattwerk und die Früchte, die an Dir wachsen? Sind Deine Kontakte zu anderen Menschen so, dass Dein „innerer Mensch“ darin gestärkt wird, Fürsorge erfährt, dass Dir Druck genommen wird? Gibt es für Dich so eine „Glaubens“-Gemeinschaft?

Alles Aufforderungen und Fragen, die Sie schnell wieder auf die Seite legen können, um sich flott dem äußeren Menschen zuzuwenden – zwei Seiten Bibelauslegung sind ja wohl genug Innerlichkeit heute, oder?

Na ja. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass Sie heute Geburtstag haben, nur 0,27% beträgt: Ich wünsche Ihnen, dass Sie Ihrem inneren Menschen zugewandt bleiben. Und dass Gott Ihre Zu-Wendung segnet!

Gebet (aus Psalm 36):

Wie köstlich ist deine Güte, Gott, dass Menschenkinder unter dem Schatten deiner Flügel Zuflucht haben! Sie werden satt von den reichen Gütern deines Hauses, und du tränkst sie mit Wonne wie mit einem Strom. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht.

Dirk Klute